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Politik

Coronavirus: Japaner zieht es aufs Land

25. Juni 2020

Sie sind müde vom Trott der Großstadt und dem Gefühl, zu Hause eingesperrt zu sein. Immer mehr Japaner wollen dem entfliehen. Die Beschränkungen während der Pandemie zeigen: Ein ausgeglicheneres Leben ist möglich.

Japan Reiskunst in Inakadate
Mitten in der Natur: Haltestelle im Dorf Inakadate ganz im Norden der Hauptinsel HonshuBild: DW/K. Dambach

Jun Okumura steht nach einer akademischen Karriere kurz vor dem Ruhestand. Ihm ist klar geworden, dass er im nächsten Lebensabschnitt etwas anders machen möchte. Jahrzehntelang lebte er in Japans Hauptstadt Tokio. Nun will er asphaltierte Gehwege eintauschen gegen das Gefühl von Sand zwischen den Zehen und Wolkenkratzer gegen Bambushaine mit grünen Hügeln im Hintergrund.

"Ich habe an eine der kleinen Inseln südlich von Tokio gedacht, um dort ein kleines Hotel für ausländische Gäste zu betreiben", erzählt er der Deutschen Welle. "Es wäre großartig, raus aus der Stadt zu kommen. Die Inseln bieten tolle Möglichkeiten zum Surfen und Tauchen, es gibt jedes Jahr einen Marathon. Es ist ein wunderschöner Ort. Und in weniger als einer Stunde ist man per Tragflächenboot in Tokio", ergänzt er. "Es mag ein Traum sein, aber es reizt mich."

Traum für das Leben außerhalb der Großstadt: die Insel ToshimaBild: Saigen Jiro

Okumura ist nur einer der vielen japanischen Stadtbewohner, die darüber nachdenken, das hektische Stadtleben gegen ein gelasseneres einzutauschen. Die anhaltende Coronavirus-Pandemie hat solche Überlegungen noch befeuert. Viele Menschen, die wochenlang ununterbrochen in ihren kleinen Wohnungen eingesperrt waren, sehnen sich mehr und mehr nach freier Natur. Darunter vor allem diejenigen, deren Arbeitgeber bereitwillig erlauben, dass sie von zu Hause arbeiten können.

Jeden Zweiten zieht es aufs Land

Einer jährlichen Studie zufolge, an der 10.000 Einwohner von Tokio und dreier benachbarter Präfekturen teilnehmen, wollen sage und schreibe 49,8 Prozent der Befragten in der Zukunft auf dem Land leben. Zwei Jahre zuvor waren es noch 23 Prozent. Die Studie wurde im Februar durchgeführt, als das Coronavirus gerade begann, das Leben in Japan stärker zu beeinflussen.

Schon vor dem Coronavirus-Ausbruch arbeitete die Regierung Pläne aus, um Menschen zu ermutigen, von der Stadt aufs Land zu ziehen. Damit sollte der jahrzehntelange Trend umgekehrt werden, dass junge Menschen auf der Suche nach Arbeit in die urbanen Bereiche ziehen. 2018 kündigte die Regierung ein Projekt an, wonach Tokioter drei Millionen Yen (knapp 24.900 Euro) erhalten könnten, wenn sie die verstopfte Hauptstadt verließen, um woanders zu leben.

Verstopfte Hauptstadt: TokioBild: picture-alliance/dpa/kyodo

37,3 Millionen Menschen wohnten nach Angaben der japanischen Statistikbehörde im Jahr 2015 im Ballungsraum Tokio, zu dem auch Metropolen wie Yokohama oder Kawasaki gehören. Das entspricht knapp 30 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes.

Obwohl die Gesamtbevölkerungszahl seit 2010 allmählich abnimmt, wächst Tokio weiter, weil junge Menschen das ländliche Hinterland verlassen, auf der Suche nach besserer Bildung und Arbeitsmöglichkeiten. Der Druck macht sich bemerkbar: im öffentlichen Nahverkehr, bei Versorgungsbetrieben, Krankenhäusern oder anderen Infrastrukturen.

Gleichzeitig besteht die Bevölkerung zahlloser Dörfer und kleiner Städte überwiegend aus älteren Generationen. Schulen sind geschlossen, Felder liegen brach, da es keine jungen Menschen mehr gibt, die sie bewirtschaften.

Auf die Frage, warum sie von der Stadt aufs Land ziehen wollen, gaben in der Studie Anfang des Jahres 55 Prozent die "reichhaltige Umwelt" als Grund an. Etwas mehr als 16 Prozent sagten, sie wollen in die Regionen zurückkehren, aus denen ihre Familie ursprünglich stammen.

Der Einfluss des Coronavirus

"Das Coronavirus hat garantiert Dinge verändert", sagt Okumura der Deutschen Welle. "Die Menschen wollen jetzt eine bessere Lebensqualität haben, näher am Strand oder den Bergen sein und Platz zum Bewegen haben. Und wenn man die Immobilienpreise in Tokio einrechnet, ergibt ein Umzug noch mehr Sinn."

Okumura zufolge kostet eine nicht neu-gebaute Wohnung auf dem Land rund eine Stunde von Tokio entfernt umgerechnet etwa 36.000 Euro. "Wenn die Menschen von zu Hause arbeiten können und vielleicht einmal pro Woche ins Büro gehen, dann ist das plötzlich ein sehr rentables Angebot."

Einige der Gemeinden, die bisher ihre jüngeren Generationen an Tokio oder Osaka verloren hatten, versuchen nun, neue Bürger mit attraktiven Angeboten anzulocken. Der Stadtrat auf der Insel Kuroshima, per Fähre sechs Stunden von der südlichen Insel Kyushu entfernt, bietet Zuschüsse von 85.000 Yen (rund 700 Euro) pro Monat und Person und kommt auch für die Umzugskosten auf. Ein weiterer Anreiz ist die einmalige Zahlung von 300.000 Yen (knapp 2.500 Euro) - oder eine Kuh.

Auch die Stadt Tsuwano in der südwestlichen Präfektur Shimane will die Gemeinschaft mit Außenstehenden wiederbeleben. Aktuell leben in dem Ort 7200 Menschen. Zwischen 2010 und 2015 schrumpfte die Bevölkerung um neun Prozent, in den fünf Jahren davor sogar um 11,4 Prozent. Dies war der größte Verlust in der gesamten Präfektur, sagt Sugako Sugawa von der städtischen Abteilung für lebenswertes Wohnen

"Vor allem viele jüngere Frauen verlassen die Stadt. Das heißt, es gibt hier weniger Hochzeiten und es werden weniger Kinder geboren", sagt sie. "Gleichzeitig altert die Bevölkerung überproportional, es ist also ein Teufelskreis."

In Tsuwano versucht man, neue Bürger in den Ort zu lockenBild: Shikabane Taro

Um Menschen zu ermutigen, nach Tsuwano zu ziehen, listet die Stadt im Internet Immobilien, die für gerade mal 30.000 Yen (rund 250 Euro) pro Monat zur Miete oder für vier Millionen Yen (rund 33.200 Euro) zum Verkauf stehen. Zusätzlich, sagt Sugawa, kämen Personen, die jünger als 40 Jahre alt sind, in den Genuss eines weiteren "Anreizes": einer Zahlung von 50.000 Yen (knapp 420 Euro) für den Haushaltsvorstand und der Hälfte davon für jede weitere Person.

Das Programm hat sich durchaus bezahlt gemacht: Innerhalb von fast fünf Jahren sind bis Dezember 2019 knapp 1150 Menschen nach Tsuwano gezogen. Allerdings sind fast 230 Menschen mehr weggezogen.

Man sei aber optimistisch, sagt Sugawa, dass der Wunsch, der Großstadt zu entfliehen und eine ruhigere Existenz aufzubauen, mehr Menschen dazu bewegen wird, Tsuwano zu ihrem Zuhause zu machen.

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