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Politik

COVID-19 in Deutschland: Alles im Griff?

Helena Kaschel
6. März 2020

Die Ausbreitung des Coronavirus setzt das komplexe deutsche Gesundheitswesen unter Druck. Das spüren Betroffene auf beiden Seiten der Hotlines und Praxistüren. Ein Blick in das Innere des Krisenbewältigungsapparats.

Uniklinik Essen Coronavirus in Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/B. Thissen

Mit so viel Aufmerksamkeit hat Michael Kegler nicht gerechnet. Am vergangenen Sonntag postet der 53-jährige Übersetzer aus dem Frankfurter Umland einen Tweet, der inzwischen mehr als 2000 Mal retweetet wurde. "Wie ernst das #coronavirus in #Hessen genommen wird, erlebe ich gerade am eigenen Leib: Erfahre gestern aus der portugiesischen Presse, dass ein Schriftsteller, mit dem in Póvoa de Varzim gearbeitet habe, an #COVID19 erkrankt ist".

Anschließend beschreibt Kegler in einem Thread seine Behörden-Odyssee: Wie er mit der Coronavirus-Hotline des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration, dem ärztlichen Bereitschaftsdienst, dem für ihn zuständigen Gesundheitsamt, seinem Hausarzt, einer vom Gesundheitsamt empfohlenen Ärztin und der Universitätsklinik Frankfurt telefoniert, um sich testen zu lassen. Wie er nach 24 Stunden kaum weitergekommen ist. Wie er nach fast einem ganzen weiteren Tag vom Gesundheitsamt angerufen und schließlich doch untersucht und getestet wird.

Zwar habe er auch von anderen Erfahrungen gehört und sei am Ende von der Reaktion des Gesundheitsamtes positiv überrascht gewesen, betont Kegler im Gespräch mit der DW. Am Montagabend sei er jedoch mit den Nerven am Ende gewesen."Man steigert sich irgendwann ein bisschen in diese ganze Geschichte herein und denkt immer: Warum mache ich das eigentlich? Ich war dann letztendlich erschrocken und erstaunt, dass es nicht so einfach ist, wie ich gedacht hätte."

Als Kontaktperson eines bestätigten Coronavirus-Erkrankten habe er erwartet, dass er von der Hotline des Ministeriums direkt zu einer Stelle geschickt werde, wo er getestet werde. "Vielleicht war das mein Trugschluss", fragt sich Kegler. 

"Ich habe mich in keinster Weise gut informiert gefühlt"

Auch Kai Clemens* (Name von der Redaktion geändert) hat persönliche Erfahrungen damit gemacht, wie Deutschland versucht, das Coronavirus einzudämmen, mit dem inzwischen mindestens 534 Menschen im Land infiziert sind. Der Anfang-30-Jährige aus Baden-Württemberg hat kürzlich ein paar Tage in Quarantäne im Krankenhaus verbracht, von wo aus er unter dem Usernamen Corona Influenza twitterte. Aktuell befindet er sich in einer vom Gesundheitsamt angeordneten 14-tägigen häuslichen Isolation.

Seine Freundin hatte nach einem Geschäftstreffen grippeähnliche Symptome gezeigt und später erfahren, dass sie dort Kontakt zu einer infizierten Person gehabt hatte. Vom ärztlichen Bereitschaftsdienst wurden beide in eine Klinik geschickt und dort voneinander getrennt. Clemens wurde dreimal negativ, seine Freundin positiv getestet.

Ärzte und Gesundheitsamt hätten in seinen Augen ihr Bestes gegeben, sagt Clemens. Er habe sich jedoch "in keinster Weise gut informiert gefühlt. Das ist auch nach wie vor ein großes Problem. Die Ärzte haben zum Beispiel gesagt: Aus gesundheitlichen Gründen müssen wir Sie eigentlich nicht hier behalten. Heimisolation schützt andere genauso gut vor der Infektion, aber jetzt sind Sie hier und wir haben unklare Kriterien oder Widersprüche oder keine eindeutigen Aussagen, wann oder wie wir Sie gehen lassen können." 

Das Gesundheitsamt habe auf ihn am Telefon einen überlasteten Eindruck gemacht, sagt Clemens. Ihm sei "ziemlich unklar", warum die Bundesregierung keine zentrale Hotline zum Coronavirus einrichte, die rund um die Uhr etwa Personen mit leichten Symptomen berate und begründete Verdachtsfälle zum Gesundheitsamt schicke.

Ein System, viele Akteure

Genau das leistet eigentlich die bundesweite Hotline des ärztlichen Bereitschaftsdienstes (116117), der auch außerhalb der Öffnungszeiten von Arztpraxen erreichbar ist. Der muss sich allerdings weiterhin auch um alle anderen Anfragen kümmern - vom Brechdurchfall bis zu akuten Rückenschmerzen.

Mehr als 140.000 Anrufe sind einem Sprecher zufolge am vergangenen Wochenende eingegangen. Der Dienst will unter anderem die Hausarztpraxen entlasten. Aktuell könne er die Zahl der Anrufe noch bewältigen, auch wenn es mitunter zu Wartezeiten komme, so der Sprecher. 

Wie komplex das dezentrale deutsche Gesundheitssystem ist, wird durch das Coronavirus überdeutlich. Auch Bundesgesundheitsministerium und die Bundesländer bieten zu bestimmten Uhrzeiten Bürgertelefone für Fragen rund um das Virus an. Neben einem nationalen Pandemieplan haben die Länder entsprechende eigene Pläne erarbeitet. Bund und Länder, das Robert-Koch-Institut (RKI) und lokale Stellen stehen im ständigen Austausch miteinander.

Eine Sitzung des Coronavirus-Krisenstabs im Kreis Heinsberg Ende FebruarBild: Reuters/W. Rattay

Die zentralen Akteure vor Ort sind die Hausärzte, Kliniken und die kommunalen Gesundheitsämter. Letztere sind für die Seuchenbekämpfung zuständig, erhalten Handlungsanweisungen von den Landesregierungen und orientieren sich an den Empfehlungen des RKI. Wie auch Hausärzte können sie aber von diesen abweichen. So kommt es deutschlandweit zu unterschiedlichen Vorgehensweisen beim Umgang mit Corona-Patienten.

"Noch nicht alle Abläufe eingespielt"

Dass die Gesundheitsämter in diesen Tagen alle Hände voll zu tun haben, zeigen ein paar Anrufe und E-Mails. Vier von der DW angefragte Ämter konnten keine Zeit für ein Telefoninterview finden. Eine Sprecherin der Stadt Bonn teilte schriftlich mit, derzeit werde das gesamte Personal eingesetzt.

Am Bürgertelefon, wo rund 100 Anrufe pro Tag eingingen (vor kurzem seien es noch 700 gewesen), arbeiten auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bereichen. Nach Informationen des WDR sind in Nordrhein-Westfalen bei zahlreichen Gesundheitsämtern genehmigte Arztstellen unbesetzt.

"In den betroffenen Regionen stehen alle Akteure gerade unter großem Druck", sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), "natürlich sind noch nicht alle Abläufe eingespielt". Aus Sicht von Veit Wambach, dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden des Verbands der niedergelassenen Ärzte Deutschlands (NAV-Virchow-Bund), hat das vor allem einen Grund: die Schnelligkeit, mit der sich die Lage entwickelt hat und neue Informationen öffentlich werden.

Laut Bundesgesundheitsminister Spahn hat die Corona-Ausbreitung in Deutschland noch nicht ihren Höhepunkt erreichtBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

"Ganz am Anfang hieß es ja, bei jedem Verdacht solle man es zunächst mal im stationären Bereich halten. Jetzt heißt es, den stationären Bereich müssen wir definitiv denen vorbehalten, die es medizinisch brauchen. Das allein war natürlich eine große Änderung, aber solche Anpassungen sind immer notwendig, wenn sich die Situation ändert - und sie ändert sich wirklich laufend", sagt Wambach.

Er selbst habe mit seinem Praxisteam die Dinge vor zwei Wochen noch anders besprochen als vor zehn oder acht Tagen. Wambach erklärt: "Jemand, der von außen drauf schaut, wird es möglicherweise auch als Unsicherheit oder als verwirrend empfinden." 

Fortschritte bei Schutzmaterialien und Tests

"In wirklich komplexen Systemen kann nicht immer alles hundert Prozent rund laufen", räumt Wambach ein. Der Mediziner rechnet in den nächsten Wochen und Monaten mit einem erheblichen zusätzlichen Aufwand für Hausärzte. Derzeit seien die meisten Praxen in Deutschland mit Blick auf das Virus jedoch "ordentlich aufgestellt". Mit dem Bereitstellen von Schutzmaterial wie Atemmasken und Ganzkörper-Schutzanzügen gebe es allerdings erhebliche Probleme.

Nach einem Beschluss des Krisenstabs will die Bundesregierung Schutzkleidung nun zentral beschaffen. Eine weitere Neuerung: Kliniken müssen sich angesichts des Coronavirus auf bestimmten Stationen nicht mehr an die Personaluntergrenze bei Pflegekräften halten.

Laut dem Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Georg Baum, sind die Krankenhäuser "bestmöglich aufgestellt und bereiten sich intensiv auf steigende Infektions- und Patientenzahlen vor". Regelmäßig werde die praktische Umsetzung von Pandemieplänen trainiert. 

Coronavirus in Deutschland

02:38

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Und auch mit Blick auf die Tests gibt es Fortschritte. Diese werden in Universitätskliniken, privaten Laboren, Hausarztpraxen, größeren Krankenhäusern und anderen Einrichtungen durchgeführt. In Bayern bietet der ärztliche Bereitschaftsdienst seit dieser Woche auch Hausbesuche an, um bei Bedarf Abstriche zu machen und diese in Laboratorien zu bringen.

Die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein will vor bestimmten Praxen Zelte und Container aufstellen, in denen Tests durchgeführt werden können. Auch die Berliner Charité in Berlin hat ein solches Zelt aufgestellt. Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zufolge gibt es derzeit Kapazitäten für rund 12.000 Tests am Tag. 

14 Tage "Corona-Ferien"?

Der Virologe Alexander Kekulé hat unterdessen deutlich schärfere Maßnahmen als bisher gefordert. Um die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland einzudämmen, müssten bundesweit alle Kindergärten und Schulen für 14 Tage geschlossen werden, fordert der Direktor am Institut für Medizinische Mikrobiologie der Universität Halle.

Die "Corona-Ferien" müsste auch die Absage sämtlicher Großveranstaltungen beinhalten. Der Deutsche Lehrerverband und Gesundheitsminister Spahn sprachen sich jedoch gegen flächendeckende Schulschließungen aus.

Für Kai Clemens endet die Corona-Quarantäne mit etwas Glück schon am kommenden Wochenende. "Am meisten freue ich mich auf die Zeit, wenn ich mit Freunden und Familie - allen voran meiner wieder vollständig genesenen Freundin - lachend auf die krasse Erfahrung zurückblicken kann", sagt er. 

Michael Kegler aus Hessen dagegen kann sich bereits über Entwarnung freuen: Kurz vor Ablauf der Inkubationszeit ist sein Test negativ ausgefallen. Auf das Ergebnis musste er nach eigenen Angaben 54 Stunden warten.

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