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Gesellschaft

COVID-19: Wann ist eine Pandemie vorbei?

25. September 2022

US-Präsident Joe Biden sagt, die Pandemie sei vorbei. Für WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus ist das Ende zumindest in Sicht. Wie ist die Situation wirklich? Eine Antwortsuche aus verschiedenen Blickwinkeln.

Eine Tafel vor einem Geschäft zeigt ein stilisiertes Gesicht mit Maske, dabei steht: "Freiwillig - Mund-Nasen-Schutz"
Die meisten Corona-Restriktionen sind abgeschafft, nicht nur in Deutschland, doch ist die Pandemie deshalb vorbei?Bild: Michael Bihlmayer/CHROMORANGE/picture alliance

Das Oktoberfest ist in vollem Gange. Corona-Tests, Atemmasken oder Abstandspflichten gibt es nicht. Auch sonst sind die Corona-Regeln in Deutschland und vielen anderen Ländern weitgehend abgeschafft. "Wir sind noch nie in einer besseren Position gewesen, die Pandemie zu beenden", sagte Tedros Adhanom Ghebreyesus, Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Mitte September. Einige Tage darauf erklärte US-Präsident Joe Biden die COVID-19-Pandemie gar für vorbei.

Die wissenschaftlichen Definitionen von Pandemie klingen in allen Versionen ähnlich und lauten etwa so: Eine Pandemie ist die Ausbreitung einer neuen Infektionskrankheit, die sich schnell über Ländergrenzen hinweg ausdehnt. Doch was bedeutet das genau? Und: Wie nah ist die Welt an der sogenannten endemischen Phase der SARS-CoV2?

Den Übergang von der Pandemie zu einer Endemie, könnte man über den Anteil der globalen Bevölkerung, die bis zu einem gewissen Grad immunisiert ist, definieren, schreibt der renommierte Medizinstatistiker John Ioannidis von der US-Universität Stanford seinem Beitrag "Das Ende der COVID-19-Pandemie". Einen festen Wert gebe es hier jedoch ebenso wenig wie bei anderen beachtenswerten Faktoren: Letalität, Druck auf Gesundheitssysteme, tatsächliches und empfundenes Risiko, gesetzliche Einschränkungen oder die öffentliche Aufmerksamkeit.

Die statistische Gefahr ist kleiner geworden

Verglichen mit dem Höchststand der wöchentlichen SARS-CoV2-Neuinfektionen am 24. Januar 2022 steht die Welt mittlerweile recht gut da: Damals hatten sich laut "Our World in Data" (OWiD) binnen sieben Tagen weltweit 304 pro 100.000 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt. Seither ist diese 7-Tages-Inzidenz zwar auf fast allen Kontinenten deutlich gesunken. Aber am 20. September 2022 lag sie bei immer noch bei 42,2 - also immerhin noch 107-mal höher als am 11. März 2020 - dem Tag, an dem die WHO die Ausbreitung des SARS-CoV2-Ausbruch zur Pandemie erklärte.

Tatsächlich sterben weltweit im September 2022 auch weiterhin mehr Menschen mit dem Coronavirus als Anfang März 2020, sogar fast sieben Mal so viele. Allerdings ist die statistische Gefahr, dass eine Corona-Infektion einen schweren oder gar tödlichen Verlauf nimmt, gesunken: Die Letalität ist heute deutlich geringer als zu fast jedem Zeitpunkt der vergangenen zweieinhalb Jahre. Kurzzeitig hatte die Letalität des Coronavirus, also das Verhältnis von Todesfällen zu Infektionen, den OWiD-Daten nach nahe zehn Prozent gelegen. Mittlerweile hat sie sich um 0,3 Prozent, also auf Influenza-Niveau, eingependelt. "Die COVID-Letalität im Vereinigten Königreich ist im März 2022 unter die von Influenza gesunken", sagt die US-Infektiologin Monica Gandhi von der University of California San Francisco.

Die Immunisierung entlastet Menschen und Gesundheitssysteme

All diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Zum einen, weil die Daten von Land zu Land unterschiedlich erhoben werden; zum anderen, weil Todesfälle zuverlässiger erfasst werden als Infektionen; und letztlich auch, weil - bis heute - in vielen Erhebungen nicht oder unzureichend unterschieden wird, ob Patienten mit oder wegen COVID-19 sterben. Dies gelte auch für die USA erklärt Forscherin Ghandi. "Dennoch ist es wahrscheinlich, dass die COVID-Letalität auch in den USA niedriger ist als die typische Influenza-Letalität."

Auch die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist deutlich gesunken, was die Gesundheitssysteme massiv entlastet. Verbesserte Behandlungsmethoden dürften dafür ein Faktor sein. Mediziner verweisen aber vor allem auf die gesteigerte Immunität gegen das Virus hin - sei es durch Impfung, eine überstandene Infektion oder beides.

In der U-Bahn von São Paulo darf man seit zwei Wochen wieder ohne Maske mitfahrenBild: Leco Viana/ZUMAPRESS/picture alliance

Dafür spricht auch eine Beobachtung von Viola Priesemann, die die COVID-19-Pandemie am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation erforscht: "Die Sommerwelle ist zurückgegangenen, ohne dass es bedeutende Einschränkungen oder Verhaltensanpassungen gab." Auch dies, sagt Priesemann, sei eines der Kriterien, die den Übergang in die endemische Phase markieren.

Der Virus verliert den Schrecken

Die meisten Staaten haben die meisten auferlegten Corona-Maßnahmen zurückgenommen. Schulen sind kaum noch geschlossen, Test- und Isolations- und Impfpflichten wurden vielerorts zurückgenommen oder auf wenige Situationen oder Gruppen reduziert. Auch das Tragen von Masken ist nur noch vereinzelt von Staats wegen vorgeschrieben.

Selbst in Australien, das lange eine extrem restriktive Corona-Politik verfolgte und im gerade ausgehenden Winter die mit Abstand heftigste und tödlichste COVID-19-Welle erlebt hat, haben nun drei der sechs Bundesstaaten angekündigt, die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln abzuschaffen.

Die Medienberichterstattung dreht sich mittlerweile um ganz andere Dinge: den Ukrainekrieg, Chinas Drohgebärden gegenüber Taiwan, die wankende Weltwirtschaft. Die Stichwörter "covid", "corona" und "vaccine" wurden um die Jahreswende 2021/22 weltweit zehnmal so häufig gegoogelt wie zur Zeit. 

Das international tätige Marktforschungsunternehmen IPSOS fragt seit August 2020 monatlich rund 20.000 Menschen in 27, seit August 2022 in 28 Ländern auf allen Kontinenten, welche drei von 18 möglichen Problemen sie mit der größten Besorgnis betrachten. Lange war COVID-19 die meistgenannte Antwort. Doch seit Jahresbeginn ist die Pandemie auf Rang 9 von 18 zurückgefallen. Dabei hat sich nicht nur die akute Angst vor Inflation und langsam steigende Sorgen vor dem Klimawandel vor die Corona-Bedenken geschoben. Auch Dauerthemen wie Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität treiben die Menschen wieder weit mehr um als die Pandemie.

Corona bleibt wohl Teil unseres Lebens

Die Anzeichen verdichten sich also, dass sich die Pandemie - als medizinisch-gesundheitliches, aber auch politisch-soziales Phänomen - dem Ende zu neigt. Doch noch gehen nicht alle Kinder wieder zur Schule, auch nicht in den USA. Lehr- und Gesundheitspersonal wird entlassen, weil sie nicht gegen Corona geimpft sind. Weder die Einschränkungen, noch die Infektionen sind also vorbei. Und ob es wirklich so kommt und dabei bleibt, stehe keineswegs fest, sagen die Expertinnen: "Ich glaube der Ausdruck 'unter Kontrolle' trifft es besser als 'vorbei'", sagt US-Forscherin Ghandi. "Wir können COVID-19 nicht ausrotten." Damit dies so bleibt, rät sie, bewährte Medikamente bereitzuhalten und älteren und immungeschwächten Menschen Omikron-spezifische Auffrischungsimpfungen nahezulegen.

Viola Priesemann möchte die Pandemie auch unter sozialen Aspekten noch nicht als vorbei bezeichnen: "Wir sind nicht vollständig zurück auf vor-pandemischem Kontaktverhalten: Das Bewusstsein für Infektionskrankheiten hat sich deutlich verändert und wird auch die Grippewellen mit beeinflussen", prognostiziert sie.

Als wahrscheinlich gilt zudem, dass das Corona- wie auch das Influenzavirus immer wieder neue Varianten hervorbringen wird - einige gefährlicher, andere harmloser als die bekannten. Aber das wären dann eventuell schon wieder neue Pandemien. Nämlich dann, wenn die jetzige vorher geendet hat.

Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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