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Wie bewertet man den Pandemieverlauf?

15. Juli 2021

Das RKI will künftig neben der Inzidenz auch stärker die Belegung der Krankenhäuser berücksichtigen. Gelten hohe Infektionszahlen künftig als nicht mehr so gefährlich?

Krankenpflegepersonal in Schutzausrüstung kümmert sich um Patienten in einem Krankenhaus in Berlin
In Deutschland soll künftig auch die Krankenhausbelegung eine Rolle spielen, wenn es darum geht, den Status der Pandemie einzuschätzenBild: Fabrizio Bensch/REUTERS

Zur Beginn der Corona-Pandemie lag das Hauptaugenmerk auf der Verhinderung von Infektionen. Solange die Bevölkerung dem neuartigen SARS CoV-2-Virus schutzlos ausgesetzt war, führten hohe Infektionszahlen nach kurzer Zeit zu vollen Krankenhäuser und Intensivstationen und auch zu einer steigenden Zahl an Todesfällen - vor allem bei den Älteren.

Ein wichtiger Indikator zur Bewertung des Pandemieverlaufs war in Deutschland in den letzten Monaten die Sieben-Tage-Inzidenz. Anhand der Zahl der Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche entschied die Politik über Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen oder andere Lockdown-Maßnahmen.

Impffortschritte ändern die Situation

Inzwischen hat sich die Situation durch die Impfkampagne zumindest in vielen westlichen Ländern grundlegend verändert. Mittlerweile sind viele Ältere oder Menschen mit Vorerkrankungen durch die Impfung geschützt. Und auch viele andere lassen sich impfen.

Insgesamt haben sich zwar in den vergangenen Monaten auch viele jüngere Menschen infiziert, aber gleichzeitig sank die Wahrscheinlichkeit, mit einer COVID-19-Erkrankung ins Krankenhaus zu müssen oder daran zu sterben, deutlich.

Riskante Lockerungen in Großbritannien

Sehr extrem hat dies jüngst die britische Regierung formuliert, als sie ihre umfassende Lockerung der Corona-Beschränkungen zum 19. Juli begründete: Laut Gesundheitsminister Sajid Javid könnten die täglichen Neuinfektionen im Lauf des Sommers auf 100.000 pro Tag ansteigen. Das wären weit mehr als in der bisher größten Welle im Januar. Die Regierung setze aber darauf, dass dies dank des Impfprogramms nicht automatisch zu einem starken Anstieg der Hospitalisierungen führen werde.

Die Logik dahinter: Ähnlich hohe Fallzahlen wie vor einigen Monaten würden heute nicht mehr unbedingt bedeuten, dass eine Infektion einen schweren Verlauf nimmt und ähnlich viele Menschen ins Krankenhaus müssen.

Erweitere Bemessungsgrundlagen

Das Robert Koch-Institut (RKI) will künftig auch neben der Inzidenz stärker die Belegung der allgemeinen Krankenhäuser berücksichtigen. Um die tatsächliche Belastung des Gesundheitssystems auch in der jeweiligen Region besser bewerten zu können, müssen Kliniken in Deutschland künftig unter anderem Daten dazu sammeln, wie viele Patientinnen und Patienten mit COVID-19 auf den Normalstationen aufgenommen werden, welche Symptome sie haben und wie ihr Impfstatus ist. Bisher müssen die Kliniken nur melden, wie viele Patienten auf die Intensivstationen kommen.

Bei der Beurteilung des Pandemieverlaufs anhand der Sieben-Tage-Inzidenz, so wie es in Deutschland bisher der Fall war, konnte die Schwere der Erkrankungen und die regional vorherrschende Auslastung der Klinken nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Kein grundlegender Strategiewechsel

Dass jetzt ein zusätzlicher Parameter stärker berücksichtigt wird, bedeutet allerdings noch keinen grundlegenden Strategiewechsel: Der reine Inzidenzwert war auch in Deutschland nie das alleinige Maß aller Dinge: Immer spielten bei der Beurteilung der Corona-Lage auch andere Werte wie die Reproduktionzahl R, die "Zahl der mit oder an Corona Verstorbenen" oder die generelle Auslastung des Gesundheitssystems eine Rolle.

München hat die Maskenpflicht in der Innenstadt bereits Anfang Juni wieder aufgehoben Bild: Peter Kneffel/dpa/picture alliance

"Das ist nicht als eine Abkehr von der Sieben-Tage-Inzidenz zu verstehen", sagte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums in Berlin. Es sei auch keine Änderung der politischen Strategie damit verbunden, die Inzidenz sei nach wie vor ein wichtiger Parameter, weil sie unter anderem Trends erkennen lasse.

Weitgehend positive Reaktionen

Eine Abkehr von der Inzidenz als maßgeblichem Maßstab haben Lobbyisten und einige Politiker schon lange gefordert. Joachim Lang, der Hauptgeschäftsführer vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), sagte etwa in einem Pressestatement: "Politik muss mit Blick auf Testpflichten, Hygiene-, Impf- und Einreiseregelungen evidenzbasiert vorgehen", so Lang. Für den Wiederaufschwung der Wirtschaft seien Planbarkeit und Verlässlichkeit entscheidende Stellhebel.

Kritiker von Entscheidungen, die maßgeblich auf dem Inzidenzwert beruhen, feiern den vermeintlichen Strategiewechsel, und auch in Wissenschaft und Medizin wird die Erweiterung des Fokus weitgehend als sinnvoll begrüßt.

"Das Pandemiegeschehen ist komplex und kann von einer Größe alleine nicht umfassend abgebildet werden", sagt Dr. Ursula Berger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Biometrie und Bioinformatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Die Zahl der Neuaufnahmen in Krankenhäusern ist zudem robuster gegenüber Änderungen der Teststrategie der Bevölkerung, das heißt, sie schwankt nicht mit der Anzahl durchgeführter Tests, ganz im Gegensatz zu der 7-Tages Meldeinzidenz. Die Zahl der Hospitalisierungen steht daher in vielen Ländern längst im Vordergrund bei der Einschätzung des COVID-19-Pandemiegeschehens.”

Ähnlich sieht es auch Prof. Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin in München Klinik Schwabing: "Die Hospitalisierungsrate erfasst im Gegensatz zur alleinigen Messung der Belegung von Intensivbetten auch die Normalstationen in Kliniken. Dies ist wichtig, da auch hier Personal gebunden ist und in Kliniken Bettenkapazitäten aus anderen Bereichen kurzfristig zur Verfügung gestellt werden müssten."

Hohe Infektionszahlen bleiben riskant

In der Konsequenz ist es grundsätzlich möglich, dass in Deutschland und in anderen Ländern die Corona-Maßnahmen im Herbst nicht wieder verschärft werden, wenn die Infektionszahlen wieder steigen würden, aber die Hospitalisierungsrate niedrig bliebe.

Aber ein solches Szenario böte eine trügerische Sicherheit.

Auch in Deutschland ist eine immer noch sehr große Anzahl von Ungeimpften sowie Jugendliche und Kinder weiterhin gefährdet. Für Kinder unter zwölf Jahren gibt es in Deutschland zum Beispiel noch keinen zugelassenen Impfstoff. Zum neuen Schuljahr werden deshalb sicherlich viele Kinder und Jugendliche ohne Impfschutz im Klassenzimmer sitzen.

Zum neuen Schuljahr werden viele Kinder und Jugendliche ohne Impfschutz im Klassenzimmer sitzenBild: Bodo Schackow/dpa/picture alliance

Selbst wenn eine Infektion nicht zwangsläufig einen schweren Verlauf oder einen Krankenhausaufenthalt bedeutet, können einzelne Infizierte schwer erkranken oder - auch Jugendliche - zum Beispiel durch Long COVID langfristige Schäden erleiden. Hohe Infektionszahlen in Kauf zu nehmen bleibt also riskant.

Pandemie ist noch lange nicht vorbei

Global gesehen kann von einem Ende der Pandemie ohnehin noch längst keine Rede sein. Selbst wenn die Inzidenzen in vielen reichen Ländern gesunken ist, kommt eine weitgehende Durchimpfung selbst dort nur schleppend voran, eine Herdenimmunität ist bis auf weiteres kaum zu erreichen.

Massenimpfungen in ärmeren Ländern können aufgrund der ungerechten Impfstoffverteilung frühestens 2024 beginnen. Wenn sich aufgrund fehlender Impfstoffe in ärmeren Ländern die Virusvarianten weiter so rasant ausbreiten, sich immer besser an den Menschen anpassen und Impfungen immer schlechter schützen, könnte das mittelfristig auch für die reicheren Länder erneut zu einem ernsthaften Problem werden.

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