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Politik

Höhe 80: Archäologie im Schützengraben

Mark Hallam hin
22. Juli 2018

Die Brutalität der Flandernschlachten im Ersten Weltkrieg ist berüchtigt. Archäologen haben über 200.000 Euro gesammelt, um eine Stellung nahe Ypern auszugraben. Sie haben 130 Tote geborgen. Mark Hallam aus Wijtschate.

Schon die ersten Untersuchungen vor drei Jahren waren vielversprechend gewesen. Danach war der belgische Schlachtfeld-Archäologe Simon Verdegem entschlossen, einen noch intakten Abschnitt berühmter deutscher Schützengräben aus dem Ersten Weltkrieg freizulegen - auf einem Gelände, auf dem eine neue Wohnsiedlung geplant ist.

Die militärische Stellung trug den Namen Höhe 80, weil sie rund 80 Meter über dem Meeresspiegel lag, auf einem Bergrücken im Dorf Wijtschate (früher auch Wytschaete genannt) in der Nähe von Ypern - der strategisch wichtigen Stadt in Westflandern, die fast während des gesamten Krieges umkämpft war.

Verdegem war überzeugt, dass die Ausgrabungsstätte ungewöhnlich ergiebig sein würde - aber er hatte auch einen dunklen Verdacht. Denn Wijtschate liegt genau dort, wo der geplante Blitzkrieg der Deutschen - der Vorstoß durch Belgien und die Häfen am Ärmelkanal Richtung Paris - gestoppt wurde.

Höhe 80 - Schauplatz gnadenlosen Grabenkrieges

Als die Soldaten die ersten Schützengräben aushoben und der Grabenkrieg begann, hatten sie keine Ahnung, was für ein brutaler Kampf ohne Vor und Zurück sich entwickeln würde. Deshalb gab es auch noch kein Verfahren, um Gefallene wieder hinter die Front zu bringen. Die ersten Soldaten, die in Wijtschate ankamen, hatten in den vorangegangenen Wochen mehrere Kilometer Geländegewinn pro Tag machen können - sie erwarteten einfach nicht, dass sie die kommenden vier Jahre an Ort und Stelle festsitzen würden.

Vier Jahre gnadenloser Stellungskrieg - Britische Soldaten am YpernbogenBild: Imperial War Museums

Darum vermutete der Archäologe Verdegem, dass hier eine ungewöhnlich große Zahl Toter im Boden läge. Er und sein Ausgrabungsteam haben schließlich die Überreste von rund 130 Soldaten unterschiedlicher Nationalität exhumiert. Sie fanden auch zwei Massengräber, in denen vermutlich bayerische Soldaten in aller Eile ihre Kameraden verscharrt hatten - Opfer der ersten Flandernschlacht im Herbst 1914, bei der unter anderem in 20 Tagen rund 40.000 frisch Rekrutierte gefallen sein sollen. Zeitgenossen nannten den Kampf darum den "Kindermord bei Ypern".

Unterstützer greifen tief in die Tasche

Die Grabungsarbeiten, die die DW noch in Aktion sehen konnte, sind inzwischen abgeschlossen. Sie kosteten nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Das konnte der Bauunternehmer, der hier Wohnhäuser errichten wollte, nicht alleine aufbringen, auch wenn er dem Vorhaben generell positiv gegenüberstand. Weniger Meter weiter war jüngst ein Sportzentrum über ehemaligen Schützengräben entstanden - Verdegem befürchtete, auf ähnliche Weise könne auch dieser vermutlich geschichtlich wertvolle Ort verschwinden. Der Archäologe wurde aktiv.

"Ich habe um Zeit gebeten, um eine Lösung zu finden", erzählt Verdegem der DW. Er startete eine Crowdfunding-Kampagne, bei der über 200.000 Euro zusammenkamen, die rund zwei Drittel der Kosten deckten. "Wir hatten einige große Spender, die später noch draufgelegt haben." In einem Tweet dankt der für die "unglaubliche Erfahrung".

Zu den prominenten Förderern gehörte der britische Komiker und Geschichtsfan Al Murray, ebenso wie der britische Militärhistoriker Peter Doyle und sein deutscher Kollege Robin Schäfer, die gemeinsam ein Buch über die Erfahrungen einfacher Soldaten im Ersten Weltkrieg geschrieben haben, "Fritz and Tommy".

Auch Forschungsinstitute wie das University College London sammelten Erkenntnisse und trugen die Kosten dafür selber. Am Ende jedes Arbeitstages flog eine Drohne über das Gelände und sandte Daten an die Virginia Tech Universität in den USA.

Die Mitglieder des Projekts Dig Hill 80 (Ausgrabung Höhe 80) ersannen viele kreative Finanzierungsmöglichkeiten: Besucher des Geländes konnten VIP-Touren buchen. Für einen zusätzlichen Obolus durften Hobby-Archäologen mitbuddeln. Vor Ort und über die Website wurden Souvenir-T-Shirts angeboten. "Sehen Sie die kleinen Bagger da drüben", erzählt Verdegem bei einem Gang über das Gelände, "die haben wir günstiger bekommen, weil kein Fahrer mitgeliefert wurde. Aber wir haben hier genug Leute, die mit denen umgehen können." Ohne die vielen Freiwilligen aus etlichen Ländern wäre die Arbeit nicht zu schaffen gewesen.

Manchmal arbeiten Archäologen nicht mit feinen Pinseln, sondern mit BaggernBild: DW/M. Hallam

Dig Hill 80 ist seltene Neuzeitarchäologie

Zum Mithelfen lud das Team auch Akademiker ein, die praktische Erfahrung brauchten - sollte am Ende Geld übrig bleiben, werden sie ihre Auslagen erstattet bekommen. Ben Goodburn hat sich gleich doppelt engagiert. "Ich hab mit Spenden angefangen", erzählt er, während er vorsichtig Geröll von einem Skelett mit weitgehend intakten Beinen und einem zerstörten Rumpf bürstet. "Aber ich befasse mich nicht zum ersten Mal mit Archäologie, und so habe ich mich entscheiden, selber herzukommen."

Artefakte aus dem 20. Jahrhundert werden selten ausgegraben. Aus dieser Ära gibt es mehr als genug schriftliche und fotografische Überlieferungen. "Manche Archäologen mögen die beiden Weltkriege nicht", erklärt Goodburn. "Die gehören zur jüngeren Vergangenheit, sind destruktive und bestens bekannte Konflikte, die ihrerseits die römischen Schätze in der Erde zerstört haben. Aber für mich fühlt es sich wie Archäologie an."

Ein engagiertes Ausgrabungsteam - manchmal kriegsmüde

Auch für Besucher sieht es nach Archäologie aus. Aber es hängt ein Schatten über dem Ort, der vermutlich an Stätten wie Pompeji nicht so ausgeprägt ist. Die Geschichte hier liegt nicht lange zurück, sie ist greifbar und an jeder Ecke durchdrungen von Tod und Zerstörung.

Hinweise auf die Kämpfe gibt es reichlich. Als Nathan Howarth Besucher durch das Gelände führt, stößt er mit dem Schuh innerhalb von Sekunden auf eine Kugel und scherzt, die Gäste könnten sie ruhig mitnehmen, denn hier gäbe es jede Menge Munition. Howarth ist ein britischer Soldat, der unbezahlten Urlaub genommen hat, um mitzuarbeiten.

Typische Funde: Eine Wasserflasche mit Einschussloch und MunitionsresteBild: DW/M. Hallam

Der Brite zeigt auf ein weißes Zelt, das Schatten bietet an einem heißen Sommertag - es wirkt allerdings weniger einladend, wenn man weiß, dass die Arbeiter hier zwei deutsche Massengräber freilegen. "Viele Menschen sind nicht gerne lange in diesem Zelt", sagt Howarth.

Auch ein italienisches Mitglied des Ausgrabungsteams wirkt nach drei Monaten etwas kriegsmüde. Gerade will sie Mittagspause machen, als ein Kollege die Küche betritt und behutsam sagt: "Es tut mir leid - ich hab da einen britischen Soldaten und sein Gewehr, ein paar Knöpfe und jede Menge Ausrüstungsgegenstände." Sie seufzt: "Das wird eine Weile dauern."

Schlamm war synonym für die Westfront

Die Stellung ist bemerkenswert ausgebaut, mit einer soliden deutschen Befestigung. Das Team hat sogar Reste elektrischer Kabel in den Gräben gefunden und vermutet darin die Stromversorgung für eine Signallampe, die quer über das Tal bis hinter Ypern strahlte.

Militärhistoriker Peter Doyle ist mit seiner Kamera auf dem Ausgrabungsfeld unterwegs und studiert das Netz der Schützengräben. Auf beiden Seiten der Gräben sind Simse ausgeschnitten, wenige Zentimeter über dem Boden. Darunter ist eine Grundschicht aus Holz und Ziegeln. Die waren nicht als Fußweg gedacht, sondern ein verzweifelter Versuch, das Wasser besser abfließen zu lassen. Auf den Simsen darüber sollten die Soldaten trockene Füße behalten.

Das tiefliegende Flandern hatte über Jahrhunderte hin ein Bewässerungssystem aufgebaut, das das Artilleriebombardement innerhalb weniger Wochen zerstörte - so entstanden der Morast und der Schlamm, die zum Synonym der Westfront wurden.

Dank zeitgenössischer Luftaufnahmen hatte das Ausgrabungsteam schon eine hervorragende Vorstellung davon, was es wo suchen wollte, bevor es nach Wijtschate kam, so Doyle gegenüber der DW. "Schließlich ist der deutsche Jagdflieger Manfred von Richthofen, der berühmte Rote Baron, genau darum hier aufgestiegen, um die Aufklärungsflugzeuge abzuschießen."

Dann verlässt der Militärhistoriker seine Besucher höflich, aber bestimmt, weil das Team einen weitgehend erhaltenen Sandsack entdeckt hat - ein sensibles Material, das ein Jahrhundert in Wasser und Schlamm normalerweise kaum übersteht: "Diese Sandsäcke sind faszinierend, das muss ich mir anschauen."

Nach der Bergung die Bestattung

Es gibt noch eine andere sensible Geschichte - die Überreste der Toten. Besucher sollen sie nicht fotografieren, das ist eine Frage der Pietät. Selbst wenn das Team einen Soldaten identifiziert zu haben glaubt - durch einen Uniformknopf, seine Waffe, die Munition oder die Sprache seiner Bibel -, dann obliegt es der jeweiligen Regierung oder Armee, den Gefallenen als einen der Ihren anzuerkennen.

Seltenes Relikt: Ein Sandsack - vermutlich rund hundert Jahre altBild: DW/M. Hallam

Howarth bringt die Besucher in einen Raum, in dem sie einen einwandfrei erhaltenen Schädel mit makellosen Zähnen genauer studieren können. Der Mann war vermutlich ein Franzose Anfang 20 - ein relativ altes Todesopfer gemessen am Durchschnitt der Truppen dieser Stellung. "Ich bin Soldat", sagt Howarth, "Sie sollten sich das genau anschauen. Darum sind wir hier."

"Warum lasst ihr die Toten nicht ruhen?" war ein Einwand, den Chef-Archäologe Simon Verdegem und Militärhistoriker Peter Doyle häufig hörten, als sie Unterstützung für das Dig Hill 80 Projekt suchten.

Das Team sieht das anders: Die rund 130 Gefallenen hätten im Fundament einer neuen Wohnsiedlung kaum Ruhe gefunden. Stattdessen werden die Überreste, die die Ausgrabungen in Wijtschate zutage gefördert haben, jetzt angemessen beerdigt. Für Doyle ist klar: "Es geht nicht um unsere Eitelkeit, das hier ist eine Rettung."

Jetzt, wo die Toten geborgen sind, kann die Ausgrabungsstätte wieder zugeschüttet und die Wohnsiedlung gebaut werden.

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