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Türkische Wirtschaft: Düstere Zeiten

Daniel Heinrich Istanbul
22. Dezember 2016

Putsch, Terror und Verhaftungswellen. Das ramponierte Image der Türkei schlägt sich negativ in den Wirtschaftszahlen nieder. Dafür wird auch "der Westen" verantwortlich gemacht. Daniel Heinrich aus Istanbul.

Türkei Automobilhersteller Ford in Kocaeli
Bild: picture-alliance/AA/H. I. Tasel

Wie um die Stille zu übertönen, dröhnt der Aufruf zum Nachmittagsgebet durch die menschenleeren Gänge des Großen Basars. Es scheint fast so, als hätten die Behörden beschlossen, die gähnende Leere in der Istanbuler Altstadt mit extra lautem Stereosound aufzufüllen.
Hasan Selamet ist fassungslos. Seit 35 Jahren betreibt er einen kleinen Schmuckladen in einer der Seitengassen des Basars. So etwas wie nach dem Putschversuch Mitte Juli hat er noch nie erlebt. "In den ersten Tagen nach dem Coup haben wir es noch gar nicht so gespürt. Aber dann wurde es immer deutlicher, dass die Kunden ausbleiben. Ich persönlich kann die Touristen sogar verstehen. Viele haben Angst, wollen wegen der politischen Ereignisse nicht mehr nach Istanbul reisen."

Ausbleibende Touristen als Symbol für die Krise: Leere Gänge im normalerweise proppenvollen Großen Basar in IstanbulBild: DW/D. Heinrich

Die Tourismusbranche macht in der Türkei rund 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Im Jahr 2016 sind die Umsätze um über 40 Prozent zurückgegangen. Hasan Selamet hat es noch härter erwischt: "Das Geschäft ist absolut im Keller. Wenn ich die Zahlen mit denen des letzten Jahres vergleiche - selbst, wenn ich nur vorsichtig schätze - würde ich sagen, dass mein Geschäft um 80 Prozent eingebrochen ist."

Die türkische Wirtschaft leidet. Zum ersten Mal seit 2009 ist die Wirtschaft geschrumpft, im dritten Quartal 2016 um 1,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Ratingagentur Moodys erwartet, dass die Wirtschaft in den nächsten drei Jahren nur um 2,7 Prozent wachsen wird. Das wäre deutlich unter dem durchschnittlichen Wert von 5,5 Prozent in den Jahren 2010 bis 2014.

Ablenkungsversuche aus der Politik 

Eine halbstündige Autofahrt vom Großen Basar entfernt, auf der anderen Seite des Goldenen Horns, empfängt uns Mehmet Simsek in einem der schicksten Hotels der Stadt. Mehmet Simsek ist der stellvertretende Ministerpräsident der Türkei. Eigentlich soll es um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gehen.
Aber Simsek will erst einmal etwas Richtung Europa loswerden: "Unsere europäischen Freunde rufen uns aus der Entfernung Ratschläge zu. Aber sie kommen nie hierher und hören uns zu, was für traumatische Ereignisse die Türkei gerade durchlebt. Ich höre immer nur: Razzien, Verhaftungswellen, immer wieder dieselbe Kritik." Für die Europäer, so Simsek, gäbe es kein anderes Thema als die erodierende Rechtsstaatlichkeit. Für ihn ist das ein Skandal: "Als ob es hier keine richterlichen Kontrollinstanzen mehr gäbe".

Der stellvertretende Ministerpräsident Mehmet SimsekBild: picture-alliance/AA/S. Corum

Die Putschnacht ist omnipräsent

Auch an der Istanbuler Börse, an diesem sonst so nüchternen, von Zahlen dominierten Ort, werden die ökonomischen Analysen erst einmal hintangestellt. Zwei Menschen hatten in der Nacht des Putschversuches am 15. Juli auf dem Gelände der Börse ihr Leben verloren, ein Gedenkstein erinnert an sie. 
"In der Türkei kann man wirtschaftliche Verflechtungen nicht einfach so von den politischen Ereignissen trennen", sagt Himmet Karadag, der Vorstandsvorsitzende der Börse. "Die Istanbuler Börse ist schon Monate vor dem Putschversuch von Anhängern der Gülen-Bewegung durchsetzt worden."

Gedenktafel auf dem Gelände der Istanbuler BörseBild: DW/D. Heinrich

Historischer Tiefstand der Lira? Rückgang des inländischen Konsums um über drei Prozent? Karadag schweift immer wieder ab, verweist, anstatt sich auf Fragen zur wirtschaftlichen Entwicklung einzulassen, immer wieder auf die Anhänger der Gülen-Bewegung als vermeintliche Putschisten.

Spätestens bei seiner Kritik an Europa hat er sich dann vollkommen von wirtschaftlichen Erwägungen verabschiedet: "Schauen Sie sich die Terrororganisation PKK und ihren syrischen Ableger, die YPG an. Es ist absolut nicht zu rechtfertigen, dass die Europäische Union eine Terrororganisation, die vielleicht 300 Menschen umfasst, als Alternative zur gesamten Türkei in Betracht sieht und mit ihnen kooperieren will."

Europa ist der wichtigste Partner

Einer, der überhaupt kein Verständnis für die aufgeheizte politische Rhetorik hat, ist Ege Yazgan. Yazgan ist Wirtschaftsprofessor an der Bilgi Universität in Istanbul. Vor allem der Rückgang ausländischer Direktinvestitionen im ersten Halbjahr 2016 um mehr als die Hälfte treiben dem trockenen Wirtschaftswissenschaftler die Sorgenfalten ins Gesicht.

Ihm ist es vor allem wichtig, auf die Bedeutung Europas als Handelspartner für die Türkei hinzuweisen: "Europa ist der wichtigste Exportmarkt für türkische Produkte und hat als Finanzmarktplatz eine herausgehobene Bedeutung für die Türkei. Die Türkei ist dringend auf ausländische Direktinvestitionen angewiesen. Zum einen gibt es gibt es hierzulande riesige Investitionslücken, zum anderen gibt es eine unglaublich niedrige Sparquote in der Türkei."

Die türkische Wirtschaft hängt stark vom Konsumverhalten der Menschen ab. Auch in diesem Bereich gibt es Einbrüche, ist der Umsatz laut türkischem Statistikamt (TÜIK) um über drei Prozent eingebrochen. 

Keine Sorgen beim Autobauer

Bei Ford Otosan versucht man trotzdem Zuversicht zu verbreiten. Der Konzern gehört zu gleichen Teilen der türkischen Holdinggesellschaft Koc und dem US-amerikanischen Automobilkonzern Ford. Das Werk in Gölcük, einhundert Kilometer westlich von Istanbul, ist die weltweit größte Produktionsstätte für den Ford Transit. Alles hier ist auf Export ausgerichtet.

Auf Export ausgerichtet: Die Produktion bei Ford OtosanBild: picture-alliance/AA/S. Oktay

Obwohl die türkischen Exporte im ersten Halbjahr 2016 insgesamt um sieben Prozent eingebrochen sind, macht sich der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Oguz Toprakoglu keine Sorgen: "Wir sind wegen der innenpolitischen Situation überhaupt nicht beunruhigt. 80 Prozent unserer Autos sind für den europäischen Markt gedacht. Bei der Produktion von Nutzfahrzeugen sind wir der Marktführer in der Türkei, deswegen machen wir uns auch um den innertürkischen Markt keine Sorgen. Mit einer Million produzierter Autos war 2015 schon ein Rekordjahr, und es sieht ganz so aus als ob wir diese Zahlen dieses Jahr wieder erreichen werden".

Präsidentielles System als Heilsbringer

Im Großen Basar in der historischen Altstadt von Istanbul kann Hasan Selamet von solch einem Optimismus nur träumen. Laut Angaben der Händlervereinigung des Basars mussten von insgesamt 2000 Läden seit dem Sommer 600 schließen.
Selamet sieht eine Teilschuld der Misere in Europa: "Tourismus hängt immer stark vom Image eines Landes ab. Und derzeit leiden wir unter der schlechten Berichterstattung der Türkei in den Medien. Ich sage gar nicht, dass unsere Regierung frei von Fehlern ist. Ich bin Sozialdemokrat, ich habe diese Regierung nicht gewählt. Aber ich erwarte von Europa, dass man uns, dass man die Türkei fair behandelt. Sobald man uns fair behandelt, sobald sich das Bild der Türkei in der westlichen Öffentlichkeit wieder normalisiert, dann kommen auch die Touristen zurück."

Hat Angst um die Zukunft: Hasan Selamat betreibt seit 35 Jahren einen kleinen Schmuckladen in der Istanbuler AltstadtBild: DW/D. Heinrich

Zurückgehende Direktinvestitionen, historischer Lira-Tiefstand, taumelnde Exporte und eine ins Mark erschütterte Tourismus-Branche? Im Istanbuler Nobelhotel muss Mehmet Simsek gleich ganz schnell los. Für die Lösung der Wirtschaftskrise hat er aber noch ein Ass im Ärmel: "Die größte Angst in der Türkei, der größte Unsicherheitsfaktor, ist die Sorge um die politische Stabilität des Landes. Ich denke, dass wir diese Stabilität mit einem präsidentiellen System zurückbekommen würden."

Simsek ist sich sicher: "Zum einen würde die Exekutive gestärkt werden, da der Präsident das Land vollkommen unabhängig von der parlamentarischen Zersplitterung fünf Jahre lang regieren könnte, zum anderen könnte man die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament abschaffen und auf dieser Weise eine faire Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen erreichen."

Der Regierungspartei AKP ist es ernst mit den Plänen. Im Dezember wurde ein entsprechender Antrag zusammen mit der nationalistischen MHP im Parlament eingebracht. Die Analysten von Moodys hatten schon im Vorfeld Stellung bezogen: Sie stuften die Kreditwürdigkeit der Türkei auf Ramschniveau zurück. Eine der Begründungen: Die politischen Reaktionen der türkischen Regierung nach dem Putschversuch.