"Damit müssen wir uns als Muslime befassen"
18. Mai 2021Warum er auf die Straße ging, weiß Mazen, ein 30 Jahre alter Flüchtling aus Syrien, genau: um gegen die aus seiner Sicht nicht zu rechtfertigende Gewalt Israels zu demonstrieren. Seine Motive zur Teilnahme an einer Protest-Kundgebung in Deutschland - eine von vielen in Europa - stellt er so dar: "Meine Freunde und ich sind gegen die illegale Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern. Wir sagen Nein zum Töten von Kindern und zur unnötigen Bombardierung von Gebäuden und lebenswichtiger Infrastruktur."
Mazen, der seinen vollständigen Namen öffentlich nicht nennen will, bekennt sich zu einer in der deutschen Öffentlichkeit umstrittenen Position. Denn natürlich stellen die Konfliktparteien und ihre Anhänger entscheidende Details unterschiedlich dar. So begründet Israel die Räumungen - aus palästinensischer Sicht: Vertreibungen - im Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah mit dem Eigentumsrecht der nach dem Waffenstillstandsabkommen von 1949 aus Ost-Jerusalem vertriebenen Juden. Mit Blick auf die Opfer des bewaffneten Konflikts mit der islamistischen Hamas erklärt die israelische Armee regelmäßig, die Hamas platziere systematisch militärische Einrichtungen in Wohngebieten und Israel selbst warne die Zivilbevölkerung vor geplanten Angriffen - während Amnesty International wegen der israelischen Angriffe bereits eine Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs fordert.
Zu Israel hat Mazen eine dezidierte Meinung: "Ich wäre ein Lügner, wenn ich sagen würde, dass wir mit dem Staat Israel befreundet sein wollen. Aber er ist da, er existiert. Wir müssen uns darum kümmern." Das hat ihn nicht gehindert, an einer Demonstration teilzunehmen, zu der neben palästinensischen auch jüdische Organisationen aufgerufen hatten, die Israels Politik gegenüber den Palästinensergebieten kritisieren.
"Nicht der ganze Protest ist antisemitisch"
Allerdings habe es antisemitische Äußerungen auf mehreren Kundgebungen gegeben, räumt er ein: "Man kann nicht jeden kontrollieren." Bei jeder Demo gebe es einzelne, manchmal auch mehrere Personen, die sich unangemessen verhielten. "Das war in Syrien genauso. Dort haben wir für demokratische Werte demonstriert - aber es waren auch Leute darunter, die einen islamischen Staat forderten", argumentiert der Syrer und vergleicht dies mit pro-palästinensischen Demonstrationen hierzulande: "Ja, bei solchen Kundgebungen äußern sich einige Personen antisemitisch. Aber man kann deshalb nicht sagen, der ganze Protest sei antisemitisch."
Dennoch war der antisemitische Tenor mancher - auch größerer – Teilnehmergruppen unüberhörbar. So riefen mehrere Teilnehmer bei einer Demo in Gelsenkirchen im Chor "Scheißjuden". Dadurch ist in Deutschland in Politik und Medien eine große Debatte über Antisemitismus unter Muslimen und Zuwanderern entstanden, die die Community politisch unter Rechtfertigungsdruck setzt.
Zu einem Video über den Gelsenkirchener Vorfall äußerte sich Aiman Mazyek, Chef des Zentralrats der Muslime, in aller Deutlichkeit: "(Ich) verurteile entschieden solch widerliche Szenen", schrieb er auf Twitter. "Wer Rassismus beklagt, selbst aber solch antisemitischen Hass verbreitet, hat alles verwirkt."
"Das Problem beim Namen nennen"
Eren Güvercin, Gründer der für Völkerverständigung eintretenden Alhambra-Gesellschaft, ist von Szenen wie der in dem Video wenig überrascht. Zwar werde Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland nur gelegentlich, etwa anlässlich eskalierender Gewalt in Nahost, sichtbar. "Aber das heißt nicht, dass er in ruhigeren Zeiten nicht existiert." Der Antisemitismus sei zentraler ideologischer Bestandteil einer Reihe extremistisch-islamistischer Organisationen, die ihn auch in die Reihen gemäßigter Muslime zu tragen versuchten. "Damit müssen wir uns in allererster Linie als Muslime auseinandersetzen. Aber es scheitert schon oft daran, das Problem überhaupt beim Namen zu nennen."
Es sei offenkundig, dass teilweise antisemitische Parolen gebrüllt worden seien, sagt auch Bülent Ucar, Professor für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Das sei für jeden erkennbar. "Es gibt gute Argumente gegen die völkerrechtswidrige israelische Besatzungs- und Enteignungspolitik", meint er. "Aber es gibt auch polarisierende Akteure, die den politischen Streit in Nahost antisemitisch aufladen und auf Europa zu übertragen versuchen. Das ist in keiner Weise hinnehmbar. Es gibt keine Rechtfertigung, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland bedroht und schikaniert werden. Das ist unentschuldbar und ein absolutes No Go."
"Zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus unterscheiden"
Bei den Demonstrationen hätten sich verschiedene Motive durchmischt, sagt auch Orkide Ezgimen, Leiterin des Projekts "Discover Diversity" der in Berlin ansässigen "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus". Es gebe Kritik am Vorgehen Israels gegen die Palästinenser, aber auch ein hohes Aggressionspotential, das in Teilen mit antisemitischen Motiven durchsetzt sei. "Diese nehmen auch Bezug auf die deutsche Geschichte, etwa den Holocaust. Das ist ganz klar antisemitisch", so Ezgimen. "In einer Demokratie gibt es natürlich das Recht, gegen die Politik eines anderen Landes zu demonstrieren - aber nicht in allen Formen! Im Falle des israelisch-palästinensischen Konflikts muss man ganz klar zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus unterscheiden."
"Nicht eine Minderheit gegen eine andere ausspielen"
Die Islamwissenschaftlerin und Publizistin Lamya Kaddor weist im DW-Gespräch auf einen anderen Punkt hin: "Die Angriffe auf Synagogen sind schrecklich, sie sind eine Schande", betont auch sie. Problematisch seien aber auch die Reaktionen innerhalb der deutschen Gesellschaft. "Wir haben mit Antisemitismus in diesem Land schon lange zu tun. Nun sollten wir nicht eine Minderheit gegen eine andere ausspielen. Das wird unsere Gemeinschaften nur weiter spalten."
Für ihn als Muslim sei es entscheidend, sich klar gegen den Antisemitismus zu wenden, betont auch Rachid Amjahad, Vorsitzender der "Gesellschaft für Kultur und Wissenschaft des Maghreb". Zwar verwahre er sich dagegen, als Muslim für antisemitische Anschläge in Kollektivhaft genommen zu werden. Es habe ihn immer wieder getroffen, wenn in Deutschland Moscheen attackiert wurden. "Wir wünschen uns dann natürlich ebenfalls Solidarität", sagt er. "Diese Solidarität müssen umgekehrt aber auch wir leisten, wenn Einrichtungen anderer Konfessionen angegriffen werden. Solidarität ist keine Einbahnstraße."
"Für mich als Muslim nicht akzeptabel"
Eren Güvercin von der Alhambra-Gesellschaft geht noch einen Schritt weiter und beklagt eine "Doppelmoral" bei einigen Teilnehmern von pro-palästinensischen Demonstrationen in Deutschland: "Wer "Scheiß-Juden" vor Synagogen skandiert und das Existenzrecht Israels ablehnt, ist antisemitisch und hat kein Interesse an Frieden. Wer Terrororganisationen wie die Hamas mit ihrem Nihilismus romantisiert und diesen Terror mit Verweis auf die Politik der israelischen Regierung rechtfertigt, akzeptiert damit den Vernichtungswillen einer Terrororganisation. Das ist für mich als Muslim nicht akzeptabel."
Allerdings dürfe man antisemitische Tendenzen keineswegs pauschal unterstellen, sagt Bülent Ucar, zumal auch die ursprüngliche Herkunft der Familien und der persönliche Erfahrungshorizont einen Unterschied machen könne. "Ein Muslim etwa aus Bosnien hat in der Regel zu Israel ein ganz anderes Verhältnis als etwa ein Syrer." Davon unabhängig seien nun verstärkt Dialogplattformen nötig, persönliche Gespräche und Begegnungen zwischen Muslimen und Juden.
"Politischen Konflikt nicht in religiösen verwandeln"
Langfristig komme es auf noch etwas an, sagt Orkide Ezgimen von der "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus": Der Verweis auf die historische Verantwortung Deutschlands wegen des Holocaust sei einerseits zwar "völlig richtig", so Ezgimen, die sich in ihrem Verein vor allem für Geflüchtete engagiert. "Aber der deutschen Politik gelingt es noch nicht, alle Teile der Bevölkerung damit in gleichem Maße anzusprechen." Viele Menschen, die von sich sagen können, dass sie eine andere Familien- und Herkunftsgeschichte haben, sehen sich in Deutschland einer Gedenkkultur gegenüber, die sie mit dem Leid von anderen konfrontiert." Manchmal entstehe dadurch bei geflüchteten Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten der Eindruck, ihre eigenen Erfahrungen würden weniger ernst genommen. "Das mündet dann schnell in einen Kampf um Anerkennung."
Kurzfristig müsse es nun aber darum gehen, die Auswirkungen des Nahostkonflikts in Deutschland in den richtigen Bahnen zu halten, sagt Maghreb-Aktivist Rachid Amjahad. "Wenn der Protest jetzt vor die Synagogen getragen wird, ist das sehr gefährlich. Denn dadurch wird ein territorialer Konflikt in eine religiösen verwandelt. Und der ist sehr schwer lösbar."