Mehrere Orchestermusiker der Berliner Staatskapelle haben sich kritisch zum Führungsstil des Dirigenten geäußert, die meisten nur anonym. Hat der Führungstyp des autoritären Maestro ausgedient?
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Musikalisches Genie, Pianist, Dirigent, Buchautor. Außerdem: Retter der Berliner Staatsoper, Musikakademie-Gründer, Humanist, Friedensstifter, einflussreichster Musiker der Welt. So lauteten lange die Beschreibungen des international renommierten Star-Dirigenten Daniel Barenboim.
Inzwischen wird Daniel Barenboim auch anders beschrieben: als Autokrat, als Workaholic, als Gesundheitsrisiko für die Orchestermitglieder. Die Kontroverse um Barenboim in den deutschen Medien ebbt nicht ab. Nachdem Willi Hilgers, Solopaukist bei der Münchner Staatskapelle, im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk Barenboim scharf angegriffen hatte, meldeten sich mehrere Musiker zu Wort – die meisten anonym.
Als leitender Dirigent sei Barenboim "launisch, aggressiv, ungeduldig, jähzornig, ungerecht". Die zum Teil noch unter ihm aktiven Orchestermusiker beschreiben in ihren Stellungnahmen ein Klima von Angst und Stress. Mitunter für manche von ihnen ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko: von Herzproblemen und auch Depressionen ist die Rede.
Diktator am Dirigentenpult
In mehreren Berichten des Klassik-OnlinemagazinsVAN und auch beimBayerischen Rundfunk ist mittlerweile ein Negativbild entstanden, das der weltberühmte Dirigent in einem Interview mit der Deutschen Presse Agentur (dpa) zu zerstreuen versuchte. Auf dem Spiel stehe im Hintergrund etwas anderes, sagte Barenboim: die Verlängerung seines Vertrags als Generalmusikdirektor bis 2022.
Inzwischen hat der Intendant der Berliner Staatsoper Matthias Schulz eine Vermittlungs- und Beschwerdestelle für betroffene Musiker angekündigt, die zeitnah eingerichtet werden soll. Der Orchestervorstand signalisierte Solidarität mit dem Dirigenten. Barenboim selbst hat Gesprächsbereitschaft angekündigt.
Maestro der alten Schule
In der Diskussion um Barenboim taucht immer wieder der Begriff des "Maestro der alten Schule" auf: ein alles beherrschender Führungstyp, der absolute Autorität für sich in Anspruch nimmt und sämtliche Fäden in der Hand hat. Ohne ihn geht nichts, Mitbestimmung ist für ihn ein Fremdwort. Ein solcher Führungstyp sei nicht mehr zeitgemäß, heißt es in Kreisen der Profimusiker.
In der klassischen Musik wird - wie bei kaum einer anderen Kunstform - große Präzision gefordert. Die Koordination der komplexen Abläufe ist nur durch eine führungssstarke Persönlichkeit möglich. Kompromissbereitschaft auf Seiten der Dirigenten und künstlerische Höchstleistung bei den Musikern scheinen widersprüchliche Faktoren zu sein.
Welches Bild des Maestro gibt es, und ist es noch zeitgemäß? In unserer historischen Bildergalerie zeigen wir Ihnen vergangene und gegenwärtige Führungspersönlichkeiten am Dirigentenpult. Und stellen fest: Sie sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst.
Musikgeschichte(n): Der Maestro-Typ
Er setzt Stimme, Körper, Wort und Blick ein. Und leitet durch Freude, Angst oder Erpressung. Ein Blick in Geschichte und Gegenwart verrät, dass Führungstypen in der Musik unterschiedlich sind, wie die Menschen selbst.
Bild: DW
Jean-Baptiste Lully (1632-1687)
Der Komponist und Dirigent am Hof des französischen Königs Louis XIV war arrogant und impulsiv: Einmal riss er die Violine aus der Hand eines Musikers und zertrümmerte sie. Ein anderes Mal rammte er während eines Konzerts den Dirigier-Stock – womit ein Maestro damals den Rhythmus markierte – in seinen Fuß hinein. Die Wunde infizierte sich und führte zu seinem frühzeitigen Tod im Jahre 1687.
Bild: picture-alliance/Mary Evans Picture Library
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Er war kein begnadeter Dirigent, ließ ganze Passagen weg, dirigierte unpräzise und stand mit manchem Orchester auf Kriegsfuß. Trotz fortschreitenden Hörverlustes bestand Beethoven darauf, zu dirigieren. Bei der Uraufführung seiner 9. Sinfonie war der gefeierte Komponist nur symbolisch da, dirigierte am Ende weiter, bis sein Assistent ihn drehte und ihm das schon applaudierende Publikum zeigte.
Bild: picture-alliance/akg-images
Richard Wagner (1813-1883)
Der erste Kult-Dirigent dirigierte stürmisch, wild gestikulierend, fauchend, Fuß stampfend. Kein musikalisches Detail war für ihn zu klein. Seine Autorität war unbestritten. Aber paradoxerweise – so berichtete der spätere Dirigent Felix Weingartner – hatten "die Musiker nicht das Gefühl, geführt zu werden. Jeder drückte sich frei aus. Und dennoch arbeiteten alle im perfekten Ensemble zusammen."
Bild: picture alliance/akg-images
Hans von Bülow (1830-1894)
Der erste prominente Dirigent, der selbst kein Komponist war. Von Bülow brachte die Berliner Philharmoniker zu Weltrum. Berühmt war sein Sarkasmus. Die Musiker mussten Kommentare wie diese aushalten: "Sie sind kein Schwanen- sondern ein Schweinen-Ritter", "Ihr Ton klingt wie eine Rinderbratensoße, die durch den Abwasserkanal fließt" oder: "Ein Tenor ist kein Mann, sondern eine Krankheit".
Bild: picture alliance/akg-images
Arthur Nikisch (1855-1922)
"Ich kann nur dirigieren, wenn ich die Musik im Herzen fühle", sagte Nikisch. Gefühl für die Musik vermittelte er durch äußerst sparsame Gestik - und durch seine Augen. "Er brauchte nur am Podium zu stehen, und die Musik klang schon besser als bei anderen", meinte Dirigent Fritz Busch. Pjotr Tschaikowsky fügte hinzu: "Er scheint nicht zu dirigieren, sondern einen geheimnisvollen Spuk auszuüben."
Bild: picture-alliance/Imagno/Wiener Stadt- und Landesbibliothek
Gustav Mahler (1860-1911)
Für seine Kompositionen gewann er zu Lebzeiten kaum Anerkennung, dafür war Mahler als Intendant der Wiener Hofoper absoluter Alleinherrscher. Binnen Monaten tauschte er zwei Drittel der Orchestermusiker aus, kümmerte sich bei den Aufführungen um jedes Detail bis hin zu den Kostümen. Jede Aufführung musste besser sein als die vorige: "Tradition ist nur eine Ausrede für Schlamperei", so Mahler.
Arturo Toscanini (1867-1957)
Als Chef des NBC Symphony Orchestra in den USA wurde Toscanini als Verkörperung der klassischen Musik schlechthin gefeiert. Der frühe Feind des Faschismus war Hitlers prominentester Gegner in der Kulturwelt. Im Umgang mit seinem Orchester aber war er selbst ein Diktator. Gefürchtet waren seine Wutausbrüche. "Wie eingeklemmte Bullen im Schlachthof" konnte er schreien, so ein Zeitgenosse.
Bild: AP
Wilhelm Furtwängler (1866-1954)
Notorisch unpräzise in der Angabe von Rhythmus und Anschlag: Dieser Dirigent ermutigte die Orchestermusiker zur gleichberechtigten Teilhabe an der musikalischen Gestaltung. Heute haben seine Aufnahmen legendären Status. Gegängelt und instrumentalisiert vom Nazi-Regime, war Furtwängler der einzige große Dirigent, der nicht aus Deutschland emigrierte, sondern "im Dienste der deutschen Musik" blieb.
Bild: ullstein bild
Herbert von Karajan (1908-1989)
An der Spitze der Salzburger Festspiele, der Wiener Philharmoniker und der Berliner Philharmoniker galt er als "Generalmusikdirektor Europas". Karajan dirigierte oft mit geschlossenen Augen und sagte einmal den Berliner Philharmonikern: "Ihr seid mein verlängerter Arm". Keiner, der bei ihm im Orchester am Notenpult saß, fühlte sich dadurch beleidigt oder degradiert.
Bild: Getty Images/E. Auerbach
Leonard Bernstein (1918-1990)
Der Amerikaner war die Antipode zu Karajan: "Lenny" behandelte seine Musiker kameradschaftlich und motivierte und spornte sie an durch Gestik und Mimik, die tausend Geschichten erzählten. Keiner, der Bernstein beim Dirigieren erlebte, vergaß es. Für ihn war die Dirigententätigkeit wie eine Droge – auf die Konzertabende folgten öfters durchgezechte Nächte zusammen mit seinen Musikern.
Bild: picture-alliance/maxppp
James Levine (*1943)
In mehr als vier Jahrzehnten als Musikdirektor und künstlerischer Leiter der Metropolitan Opera in New York dirigierte Levine mehr als 2.500 Aufführungen von 85 verschiedenen Opern – und machte "die Met" zu einem der renommiertesten Opernhäuser der Welt. Die Schattenseite: Er soll jahrzehntelang junge Musiker sexuell missbraucht haben. Im März 2018 kündigte das Opernhaus die Zusammenarbeit auf.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert
Yannick Nézet Séguin (*1975)
Der Kanadier, der ab 2020 Levines Nachfolger an der New Yorker "Met" wird, hat einen männlichen Lebenspartner und ist der erste unter den prominenten Dirigenten, der offen homosexuell lebt. Der lockere und nahbare Musiker ist das Gegenteil eines autoritären Maestros. Sein Führungsstil verspricht einen frischen Ansatz und neue musikalische Wege für das durch den Levine-Skandal gebeutelte Haus.
Bild: Getty Images/R. Orlowski
Simon Rattle (*1955)
In seinen 16 Jahren als Musikdirektor der Berliner Philharmoniker hat der Brite das Orchester geöffnet, auch in Richtung digitaler Medien. Der Dirigent pflegt einen freundlichen, respektvollen Ton mit seinen Musikern. Sie haben es nicht immer gleichermaßen freundlich quittiert: Während seiner ersten Jahre in Berlin wurde Rattle von den Traditionalisten im Klangkörper scharf angegangen.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe
Alondra de la Parra (*1980)
Erst in den letzten Jahren treten immer häufiger Dirigentinnen auf. Zu den weiblichen Shooting Stars gehört die Mexikanerin de la Parra. Sie verkörpert einen neuen Stil: Stark, sensibel, charismatisch, ohne Allüren und mit vielen Ausdrucksnuancen hat sie ihr Orchester im Griff. Ihre Autorität beruht auf ihrem Kommunikationstalent - beim Dirigieren und als Musikvermittlerin in den Sozialen Medien.