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Literatur

Daniel Kehlmann: "Die Vermessung der Welt"

7. Oktober 2018

Die Forscher Humboldt und Gauß begegnen sich 1828 auf einem Kongress. Daniel Kehlmann lässt in seinem Roman diese zwei Giganten der deutschen Geistesgeschichte aufeinanderprallen. Sein Buch wurde ein Weltbestseller.

Daniel Kehlmann, Schriftsteller
Bild: Imago/Skata

Mit Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß begegnen sich zwei der herausragenden Köpfe ihrer Zeit. Beide besuchen 1828 den Deutschen Naturforscherkongress in Berlin.

Der 51-jährige Gauß gilt als der größte Mathematiker der Welt. Der acht Jahre ältere Humboldt ist mit seinen aufsehenerregenden Forschungsexpeditionen nach Südamerika weltweit berühmt geworden.

Gauß, Mathematiker, Physiker und Astronom, wird mit seinen Erkenntnissen die Grundlage schaffen für Einsteins Relativitätstheorie, die rund hundert Jahre später entwickelt wird.

Der Geologe, Geograph und Biologe Humboldt liefert mit seinen wissenschaftlichen Erkundungsreisen die Grundlagen der Meeres-, Wetter-, Klima- und Landschaftskunde. Seine Weltbeschreibungen haben ihn prominent gemacht.

"Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann

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Experimenteller Roman

Das Zusammentreffen dieser beiden großen Gelehrten bildet den Ausgangspunkt von Daniel Kehlmanns Bestsellererfolg "Die Vermessung der Welt". Der Schriftsteller ist gerade mal 30 Jahre alt, als er mit seinem bereits fünften Roman in die Liga der meistgelesenen Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur aufsteigt.

Der Roman wird 2005 zum absoluten Verkaufsschlager. 35 Wochen hält er sich an der Spitze der Spiegel-Bestsellerliste und stellt damit einen Rekord auf, der selbst Bernhard Schlinks "Der Vorleser" und Patrick Süskinds "Das Parfum" hinter sich lässt.

Kehlmann hat Literaturwissenschaft und Philosophie studiert und ist auch mit Hochschulvorlesungen zur Poetik in Erscheinung getreten. Einen Historienroman zu schreiben, lag ihm fern. Er nennt das Buch lieber einen "Gegenwartsroman, der in der Vergangenheit spielt". Der Erzählton seines Romans "sollte so klingen, wie ein seriöser Historiker es schreiben würde, wenn er plötzlich verrückt geworden wäre", gesteht Kehlmann 2006 in einem FAZ-Interview.

Gegensätzliche Charaktere

Naturforscher und Geograph: Alexander Freiherr von Humboldt (Gemälde von 1859)Bild: picture-alliance/akg-images

Gauß und Humboldt sind die beiden Hauptfiguren in Daniel Kehlmanns Roman. Im ersten Kapitel befindet sich Gauß, der Mathematiker, missmutig auf dem Weg zum Kongress in Berlin – auf Einladung Humboldts. In den folgenden Kapiteln springt die Romanhandlung dann in der Zeit zurück. Chronologisch wird die Lebensgeschichten der beiden Männer erzählt, in markanten Anekdoten, kapitelweise abwechselnd zwischen Humboldt und Gauß, bis sich der Zeitrahmen mit dem Zusammentreffen der beiden Forscher auf dem Kongress schließt.

Der Roman ist eine raffiniert erzählte Doppelbiographie, amüsant und lehrreich, aber auch doppelbödig und hintersinnig. Die beiden Protagonisten könnten kaum gegensätzlicher sein. Der eine – von Humboldt – aus aristokratischem Hause, klassisch gebildet, mit dem immerwährenden Drang, die Welt zu bereisen. Der andere aus kleinen Verhältnissen, ein Provinzler, der das Reisen verabscheut und dem es reicht, die Welt vom Schreibtisch aus zu begreifen. So verschieden sie sind, beide sind sie Genies, die sich in ihrem Wissen komplementär ergänzen und zuletzt zu einer inneren Verbundenheit finden.

Verfilmung fürs Kino: Daniel Kehlmann (links) bei den DreharbeitenBild: picture-alliance/dpa/J. Trenkler

Skurrile Exzentriker

Jeder ist auf seine Weise ein unglaublicher Exzentriker und eine skurrile Figur. So zieht der reiseunlustige Grantler Gauß, begleitet von seinem siebzehnjährigen Sohn Eugen, schon beim Eintreffen in der preußischen Hauptstadt sein vernichtendes Fazit dieser Stadt:

"Sie erreichten Berlin am Spätnachmittag des nächsten Tages. Tausende kleine Häuser ohne Mittelpunkt und Anordnung, eine ausufernde Siedlung an Europas sumpfigster Stelle. Eben erst hatte man angefangen, prunkvolle Gebäude zu errichten: einen Dom, einige Paläste, ein Museum für die Funde von Humboldts großer Expedition. In ein paar Jahren, sagte Eugen, werde das hier eine Metropole sein wie Rom, Paris oder Sankt Petersburg. Niemals, sagte Gauß. Widerliche Stadt!"

Im weiteren Rückblick auf seine Lebensgeschichte erlebt man dann, wie er sich – ausgerechnet  in der Hochzeitsnacht – in einer intimen Situation aus den Armen seiner Frau reißt, um an seinen Schreibtisch zu rennen und eine physikalische Erkenntnis zu notieren:

"Als er seine Hand über ihre Brust zum Bauch und dann, er entschied sich, es zu wagen, obwohl ihm war, als müsse er sich entschuldigen, weiter hinabwandern ließ, tauchte die Mondscheibe bleich und beschlagen zwischen den Vorhängen auf, und er schämte sich, dass ihm ausgerechnet in diesem Moment klar wurde, wie man Messfehler der Planetenbahnen approximativ korrigieren konnte."

Filmszene aus "Die Vermessung der Welt"; der Film kam 2012 ins KinoBild: Warner Bros. 2012

Deutsche Männerbilder

Auch Alexander von Humboldt wird in Kehlmanns Roman einer ironisch-satirischen Betrachtung unterzogen. Gegenüber dem eher derben und in Gefühlsangelegenheiten wenig sensiblen Gauß erscheint Humboldt – ganz das Gegenteil – steif, zugeknöpft und sexuell verklemmt.

Als er auf einer Expedition in Neuandalusien nach einer Höhlenerkundung in seine Unterkunft zurückkehrt, hat er eine Begegnung der für ihn unheimlicheren Art "Schwungvoll öffnete er die Tür seiner Klosterzelle, in der ihn eine nackte Frau erwartete."

Eine völlig unerwartete Situation, mit der der naturwissenschaftliche Abenteurer Humboldt weniger umgehen kann als mit seinen berufsmäßigen Vermessungen der Welt.

"Als sie ihm das Hemd hochzog, riss ein Knopf ab und kullerte über den Fußboden. Humboldt folgte ihm mit den Augen, bis er an die Wand stieß und umfiel. Sie legte die Arme um seinen Hals und zerrte ihn, während er murmelte, dass sie loslassen solle, er sei Beamter der preußischen Krone, in die Mitte des Zimmers."

Für seine beiden "Helden der Wissenschaft" schreibt Kehlmann immer wieder Szenen, in denen sie sich gegenseitig spiegeln. Mit Gefühlen umgehen können sie beide nicht.

Kehlmann neben Eva Menasse und Salman Rushdie 2017 zu Gast bei Bundespräsident SteinmeierBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Satire über das Deutschsein

Kehlmann nennt seinen Roman deshalb auch eine "aggressive Satire über das Deutschsein". Der große Forscher Humboldt bekommt zum Beispiel das Erlebnis einer Sonnenfinsternis nicht mit, weil er zu sehr mit ihrer Vermessung beschäftigt ist. "Zum Aufblicken sei keine Zeit gewesen", wird Humboldt im Roman zitiert.

Und als er an anderer Stelle auf dem Gipfel eines Berges von einem Bienenschwarm angefallen wird, bleibt er in seiner hochgeschlossenen Uniform aufrecht stehen, während sich sein weniger disziplinierter, das Leben liebender französischer Begleiter auf der Stelle zu Boden wirft.

Biographisch lassen sich solche Anekdoten aus dem Leben der beiden Forscher nicht belegen. Kehlmann hat sie einfach frei erfunden. Und so vermischt er in "Die Vermessung der Welt" auf lustvolle Weise Faktisches und Fiktives und macht aus den historischen Personen Gauß und Humboldt höchst lebendige Romanfiguren. Ein großes Lesevergnügen.

 

Daniel Kehlmann: "Die Vermessung der Welt" (2005), Rowohlt Verlag

Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren. 1981 kam er mit seiner Familie nach Wien, wo er später Philosophie und Germanistik studierte. Sein erster Roman, "Beerholms Vorstellung" erschien 1997. Seine Rezensionen und Essays wurden in namhaften deutschen und internationalen Magazinen und Zeitungen publiziert. "Die Vermessung der Welt", in bisher vierzig Sprachen übersetzt, ist einer der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit. 2017 erschien sein letzter Roman "Tyll". Daniel Kehlmann lebt als freier Schriftsteller in Wien und Berlin.

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