"Das Amt des Bundespräsidenten ist beschädigt"
19. Juli 2005DW-WORLD: Die Hinweise verdichten sich, dass Bundespräsident Köhler den Bundestag wohl auflösen wird. Haben Sie denn noch Hoffnung, dass er es nicht tut?
Wolf-Rüdiger Schenke: Für mich sind die rechtlichen Voraussetzungen für eine Auflösung nicht gegeben. Die Begründung, die der Kanzler bisher für die Vertrauensfrage gegeben hat, reicht mir nicht aus, um die Voraussetzungen zu erfüllen, die das Bundesverfassungsgericht 1983 genannt hat. Er hat sich primär darauf berufen, dass er der Legitimation durch das Volk, den demokratischen Souverän bedarf. Das ist eine Zielsetzung, die eindeutig nach Artikel 68 Grundgesetz und auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht erfüllt ist. Er hat im späteren Verlauf darauf abgestellt, dass er die Mehrheit im Bundestag verloren habe, hat aber dafür keine konkreten Anhaltspunkte gelieferte. Und der Umstand, dass er vorher alle Abstimmungen im Bundestag gewinnen konnte, sogar noch einen Tag vor der Abstimmung zur Vertrauensfrage, immerhin 40 Gesetze und Anträge im Bundestag verabschieden lassen konnte mit Hilfe der Regierungsfraktionen, zeigt meines Erachtens deutlich, dass er die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages hinter sich hat. Davon ist interessanterweise auch Franz Müntefering ausgegangen mit seiner Erklärung (als er aussprach, dass der Bundeskanzler das Vertrauen der Fraktion genießt; d. Red.), die er am Tag der Vertrauensabstimmung abgab.
Glauben Sie wirklich, dass Ihre Argumente so schlagkräftig sind, dass sie Bundespräsident Köhler ausreichen, um den Bundestag nicht aufzulösen. 1983 war die Situation doch ähnlich und dennoch wurde der Bundestag aufgelöst..
Die Kriterien, die ich genannt habe, sind ja Kriterien, die durch das Bundesverfassungsgericht aufgestellt wurden. Von daher müsste der Bundespräsident diese bei seiner Entscheidung berücksichtigen. Natürlich steht er von allen Seiten unter starkem politischen Druck und ist in einer schweren Situation. Ich habe trotzdem noch die Hoffnung, dass er doch nicht auflösen wird. Zumindest hoffe ich, falls es zu einer Auflösung kommen sollte, dass das Bundesverfassungsgericht die Kriterien zugrunde legt, die es früher gefordert hat. Und wenn es daran festhält, muss meines Erachtens dem Antrag des Abgeordneten stattgegeben werden.
Nehmen wir an, der Bundespräsident löst den Bundestag auf. Ist Ihrer Meinung nach damit das Amt des Bundespräsidenten beschädigt?
Das Amt des Bundespräsidenten ist meines Erachtens dadurch beschädigt, dass die Parteien im Vorfeld den Eindruck erweckt haben, dass es überhaupt nicht mehr auf die Entscheidung des Bundespräsidenten ankommt. Es wurde von allen Parteien so getan, als sei es reine Formsache, dass aufgelöst wird. Die entsprechenden Wahlmaschinerien laufen schon auf Hochtouren. Darin scheint mir eine grobe Respektlosigkeit gegenüber dem Bundespräsidenten zu liegen. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass der Bundespräsident seine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen treffen wird. Er hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Er hat sich rechtskundig gemacht bei Verfassungsexperten, er hat die verschiedenen Abgeordneten, auch den von mir vertretenen Abgeordneten Schulz angehört und sich dessen Sicht schildern lassen und er hat - was ja auch seine Bedenken zeigt - den Bundeskanzler gebeten, noch nach der Vertrauensabstimmung näher darzulegen und zu begründen, weshalb er tatsächlich das Vertrauen verloren hat.
Haben Sie den Entwurf für die Klage schon in der Schublade?
Man muss natürlich realistisch davon ausgehen, dass eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass es zu einer Auflösung kommt. Wenn dem so ist, ist nach spätestens 60 Tagen eine Neuwahl anzusetzen. Da ist natürlich Eile geboten bei der Betreibung eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens und das zwingt dazu sich schon im Vorfeld Gedanken zu machen, wie man vor dem Verfassungsgericht argumentiert. Ich habe da ja schon etwas Erfahrung. 1983 habe ich ein entsprechendes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht durchgeführt und dabei drei Abgeordnete vertreten.
Lesen Sie im zweiten Teil, wie Wolf-Rüdiger Schenke vor dem Bundesverfassungsgericht argumentieren will und welche Rolle der öffentliche Druck bei einer Entscheidung spielt.
Was ist das schlagende Argument in Ihrer Klageschrift?
Das ist, dass dem Bundeskanzler obliegt, darzulegen, weshalb er das Vertrauen verloren hat. Diesbezüglich ist er eine Antwort schuldig geblieben.
Bundeskanzler Schröder hat auf Anfrage des Bundespräsidenten Dossiers nachgereicht, um das fehlende Vertrauen zu dokumentieren.
Mir selber und dem Abgeordneten Schulz sind die Dossiers nicht zugänglich gemacht worden, ich habe davon nur aus der Presse erfahren. Ich meine, dass diese Dossiers geringen Aussagewert haben, weil ja maßgeblich ist, ob zum Zeitpunkt der Stellung der Vertrauensfrage eine Mehrheit für den Kanzler bestand. Und da hat ja eine ganze Reihe von Abgeordneten eindeutig erklärt, dass nach wie vor ein Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages für den Kanzler gegeben ist. In diese Richtung hat sich auch Müntefering geäußert.
Schon 1983 haben Sie Abgeordnete bei einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten. Wie ist die Situation heute im Vergleich mit damals?
Auch 1983 war eine Vertrauenslage für Helmut Kohl gegeben. Damals war es ja so, dass kurz vorher das Haushaltsgesetz verabschiedet worden war mit einer klaren Mehrheit. Kohl wollte mit der gleichen Parteienkonstellation die Regierung fortsetzen. Deshalb lag meines Erachtens auch damals keine Situation vor, die es gerechtfertigt hatte, die Auflösung des Bundestages verfassungsrechtlich durchgehen zu lassen. Heute ist die Situation nicht eins zu eins vergleichbar, allerdings ist die Grundkonstellation "Vertrauen" vorhanden.
Welche Rolle spielt der öffentliche Druck der Politik, der Medien für das Bundesverfassungsgericht?
Das Bundesverfassungsgericht hat nur nach Recht und Gesetze zu entscheiden. Natürlich kann man davon nicht völlig abstrahieren, dass ein erheblicher politischer Druck der Öffentlichkeit ausgeübt wird. Hier kann man nur hoffen, dass sich das Bundesverfassungsgericht diesem Druck widersetzen wird. Wenn wir zum Beispiel hören von Politikern aller Parteien, dass es eine Katastrophe wäre, wenn der Bundestag nicht aufgelöst wird, dann wird deutlich, dass hier trotz gegenteiliger Bekundungen ganz erhebliche Pressionen ausgeübt werden. Zum einen auf den Bundespräsidenten, und letztlich wird auch das Bundesverfassungsgericht unter Druck gesetzt. Ich bin aber zuversichtlich, dass es diesem Druck widersteht. Es geht hier nicht um reine rechtstechnische Fragen, wie es in der Bevölkerung oft den Anschein hat. Sondern hier geht es um fundamentale verfassungsrechtliche Strukturprinzipien. Deshalb hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sollte es zu einem Prozess kommen, größte Bedeutung für die verfassungsrechtliche Weichenstellung in der Zukunft.
Was wäre denn die sauberste Lösung gewesen, Neuwahlen einzuleiten?
In Betracht zu ziehen, wäre ein Rücktritt. Allerdings hätte es mir als merkwürdig angemutet, wenn derselbe Kanzler, der zurückgetreten ist, wieder als neuer Kanzler wie Phönix aus der Asche wiedererstanden wäre und sich im Wahlkampf als entsprechender Kandidat präsentiert hätte. In Betracht gekommen wäre auch ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages, das allerdings eine Verfassungsänderung voraussetzt. Bei diesem Selbstauflösungsrecht gibt es pro und kontra Argumente. Das ist schon intensiv diskutiert worden durch die Verfassungsreformkommission, im Endergebnis ist es aber abgelehnt worden. Ich meine, dass eine Verfassungsänderung einen verfassungsrechtlich zulässigen Weg zur Auflösung des Bundestages und zu Neuwahlen darstellt. Ich habe aber Bedenken, wenn in einem Schnellverfahren eine solche Verfassungsänderung durchgeführt wird. Das erweckt ja den fatalen Eindruck der Bundeskanzler hat ein Neuwahl-Versprechen abgegeben und jetzt muss, damit das Versprechen erfüllt wird, nun schnell mal die Verfassung geändert werden.
Wolf-Rüdiger Schenke vertritt den Grünen-Bundestagsabgeordneten Werner Schulz bei dessen angekündigter Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, falls Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag auflöst. Schenke lehrt Jura an der Universität Mannheim. Sein Spezialgebiet sind öffentliches Recht und Verwaltungsrecht. Der 63-Jährige hat zahlreiche Lehrbücher veröffentlicht. 1983 vertrat er bereits zwei FDP-Abgeordnete in Karlsruhe, nachdem der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) ähnlich wie nun Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vertrauensfrage mit dem Ziel gestellt hatte, sie zu verlieren. Die Klage war damals gescheitert.