WM ohne Fangesänge
15. Oktober 2008Applaus gibt es gerade einmal, als die beiden Kontrahenten die Bühne betreten. Nach den Nationalhymnen und dem Eröffnungszug, den stellvertretend Ex-Wirtschaftsminister Werner Müller für den verhinderten WM-Schirmherren Peer Steinbrück ausführt, hört man aber nur noch vereinzeltes Getuschel der Zuschauer. Wie in einem Kinosaal sitzen die zahlreichen Schachbegeisterten am Dienstag (14.10.2008) in der Bonner Bundeskunsthalle bei der ersten der insgesamt zwölf anberaumten Partien und starren – scheinbar emotions- und teilnahmslos – auf die riesige Leinwand über den Spielern, auf der die aktuelle Stellung der Figuren schematisch dargestellt wird. Es ist das entscheidende Aufeinandertreffen des indischen Weltmeisters Viswanathan Anand und seines Herausforderers Wladimir Kramnik aus Russland um die Krone des Schach.
Beim Schach spielt sich die Begeisterung der Fans eben im Kopf ab. "Das Spannende beim Zuschauen ist doch zu überlegen, welchen Zug man selbst als nächstes tun würde und dann bestätigt zu werden – oder eben nicht", erklärt Frithjow Wahl. Das würde die Stille im Zuschauerraum erklären: Massenkonzentration. Wahl kommt an diesem Dienstagnachmittag mit seiner Frau Hedi zur WM. Beide spielen schon seit 60 Jahren Schach, sagen sie. "Wir sind schon viel in der Welt herumgekommen", fahren sie fort, "und überall kamen wir durch das Schachspiel mit den verschiedensten Leuten in Kontakt."
Nichts ist zufällig
Auf dem Boden des Foyers der Bundeskunsthalle ist ein großes Schachfeld aufgemalt. Darauf stehen fast kniehohe Figuren aus Plastik. Michael Senkowski und Johannes Florstedt spielen hier noch eine Partie, bevor sie auch in die Halle gehen. Der 27-jährige Senkowski ist Turnierleiter beim Godesberger Schach-Klub, sein Gegenüber Johannes ist erst elf und spielt für die Godesberger Jugendmannschaft. "Fußball habe ich auch einmal probiert", sagt er, "aber Schach hat mir eben mehr Spaß gemacht."
Laut Senkowski hat Schach auch einen großen Vorteil gegenüber dem Fußball: "Beim Schach gibt es keine Abpraller", meint er. "Was ich damit sagen will ist, dass bei unserem Sport nichts dem Zufall überlassen ist. Und ja, Schach ist ein Sport", fügt er hinzu. Schließlich lerne man beim Schach Komponenten wie Teamfähigkeit oder Kameradschaft genauso wie in anderen Sportarten. Training gebe es ebenfalls und die physische Anstrengung bei einer Partie sei nicht zu unterschätzen.
Das Brett muss brennen
Wahrscheinlich war es weniger die körperliche Anstrengung als Taktik, dass der 33-jährige Kramnik nach zwölf Zügen bereits zum zweiten Mal die Bühne für einige Minuten verließ und den fünf Jahre älteren Anand alleine am Brett zurückließ. Kurze Zeit später setzt auch unter den Zuschauern ein Kommen und Gehen ein – vielleicht, weil einige die Partie zu langatmig finden.
So zum Beispiel Bernhard Steinberg. Der 47-jährige Düsseldorfer verlässt für einen Moment seinen Platz im Zuschauerraum. Bisher sei es eine langweilige Partie gewesen, sagt er enttäuscht. Schach sei erst dann faszinierend, "wenn das Brett in Flammen steht, also wenn an allen Ecken verteidigt und angegriffen wird." Dass sich die beiden Profis in der ersten Runde noch nicht bekriegen, sei jedoch zu erwarten gewesen.
Es kann nur einen geben
Doch zäher Auftakt hin oder her: Die Faszination des Spiels wird die Schachfans auch in den kommenden Wettkampftagen und darüber hinaus fesseln. Diese Faszination beschrieb der Großmeister und WM-Kommentator Artur Jussupow jüngst in einem Interview: "Schach ist einfach ein geniales Spiel, wo ein erfinderischer Geist oft die reine Materie schlägt, wo der schwächste Stein am Ende die stärkste Figur werden kann." Darüber hinaus sei Schach eine Fantasiewelt, die jedoch die reale Welt widerspiegle.
In der ersten Runde trennten sich die beiden Großmeister nach 32 Zügen noch mit einem Remis. Die Spannung wird allerdings bis zum 31. Oktober, wenn die letzte WM-Partie stattfinden soll, steigen. Sollte nach zwölf Partien noch kein Sieger feststehen, wird der neue (oder alte) Weltmeister in einem Tie-Break am 2. November ermittelt.