Das dritte Geschlecht
17. September 2013Bindiya Rana steht jedes Mal vor einer schweren Entscheidung, wenn sie im Kino auf die öffentliche Toilette gehen muss. Stellt sie sich an die Schlange für die Männertoilette, wird sie schief angesehen. Stellt sie sich bei den Frauen an, aber auch. Die Pakistanerin, Mitte 30, ist intersexuell. Das heißt, geboren wurde sie mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsorganen. Sie ist also nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, obwohl sich Bindiya eher weiblich fühlt. Wie viele Menschen in Pakistan intersexuell sind, ist nicht bekannt. Offiziell gibt es keine Statistiken.
Seit 2010 gibt es in Pakistan ein Gesetz, das Menschen, die zwei Geschlechter haben, mit Männern und Frauen auf eine Stufe stellt: Davor durften sie sich nicht einmal als Staatsbürger registrieren lassen. Somit durften sie kein Bankkonto eröffnen, nicht wählen und keine Wohnungen mieten. Seit der Verabschiedung des Gesetzes haben intersexuelle Menschen außerdem ein Recht auf freie Bildung und eine freie Gesundheitsversorgung - und es gibt eine Zwei-Prozent-Quote für Arbeitsstellen in Behörden.
Probleme bei Behörden
In Deutschland sind intersexuelle Menschen nicht gesetzlich benachteiligt. Dennoch haben sie auch in der Bundesrepublik mit Problemen im Alltag zu kämpfen - auch deshalb, weil sie von den Behörden bislang einem der beiden Geschlechter zugeordnet wurden: "Das war zum Beispiel bei der Wehrpflicht so", erklärt Andrea Budzinski, die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität. Wer in seiner Geburtsurkunde als "männlich" gekennzeichnet war, musste den Wehrdienst antreten, auch wenn die weiblichen Merkmale des Körpers überwogen.
Bislang gab es im Geburtenregister nur die Optionen "männlich" oder "weiblich" und eine klare Geschlechtsbezeichnung war Pflicht. Viele intersexuelle Kinder wurden schon früh, ohne ihr Einverständnis, einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, um den gesellschaftlichen Normen zu entsprechen. "Das führte dazu, dass viele Menschen schon als Babys durch eine Operation in eine Geschlechterrolle gezwungen wurden, in der sie später vielleicht gar nicht leben wollen", erklärt Andrea Budzinski. "Bisher war das ein Verstoß gegen die Menschenrechte und die Selbstbestimmung."
Neue Regelung ab November
Vom 1. November 2013 an soll sich das ändern. Dann tritt ein Gesetz in Kraft, nach dem die eindeutige Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter in der Geburtsurkunde nicht mehr zwingend ist. In dem Datenfeld, in dem das Geschlecht anzugeben ist, kann künftig einfach gar nichts stehen. Rechtlich ist damit anerkannt, dass Menschen nicht nur männlich oder weiblich sein können. Neugeborene werden in Zukunft als Erwachsene selbst entscheiden dürfen, ob sie sich eines Tages eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen möchten oder nicht.
Wie viele Menschen das Gesetz betrifft, ist nicht klar. Auch in Deutschland gibt es keine offiziellen Zahlen zu Intersexuellen. Faktisch entsteht durch die Regelung in Deutschlands Gesetzgebung ein drittes Geschlecht. "Wir begrüßen das als ersten Schritt, weil sehr viele Intersexuelle über Jahrzehnte von unserem Staat nicht wahrgenommen worden sind", sagt Andrea Budzinski im DW-Gespräch. "Zum ersten Mal erkennt der Staat nun an, dass es solche Menschen gibt und schiebt sie dabei nicht in irgendeine Krankheitsecke."
Die neue Regelung wirft aber auch Fragen auf, die bislang noch nicht beantwortet sind: Was wird zum Beispiel zukünftig in Reisepässen stehen? In einigen Ländern könnte ein Pass ohne eine klare Bezeichnung des Geschlechts zu Problemen bei der Einreise führen. Auch die Frage, ob Intersexuelle künftig heiraten dürfen oder nur Lebenspartnerschaften eingehen können, muss noch geklärt werden.
Im Koran wird Intersexualität erwähnt und anerkannt
Andere Länder sind schon weiter. In Australien gibt es sogar einen eigenen Status für Intersexuelle: "Different", also "anders", kann dort in den Dokumenten eingetragen werden.
Auch muslimische Länder wie Afghanistan, Nepal oder Pakistan erkennen mehrgeschlechtliche Menschen mittlerweile an. "Das liegt daran, dass Intersexualität bereits im Koran erwähnt und anerkannt wird", sagt die Pakistanerin Bindiya Rana, die jedoch der Meinung ist, dass auch in ihrem Land noch einiges getan werden muss, bis die Gleichberechtigung auch im Alltag angekommen ist. Vor allem hätten Intersexuelle kaum berufliche Perspektiven. "Früher haben wir unser Geld hauptsächlich damit verdient, dass wir auf Feiern wie Hochzeiten oder Geburten getanzt und gesungen haben", erzählt Rana. "Jetzt wird dies von professionellen Performern übernommen. Den meisten Intersexuellen bleibt nur noch das Betteln und die Arbeit im Sex-Gewerbe."
Trotzdem ist sie sicher, dass die Anerkennung der Intersexuellen auch in Pakistan ein erster Schritt in die richtige Richtung war: "Wenn Sie jemandem eine Identität geben und seine Existenz anerkennen, wird er auch bereit sein, etwas für sein Land zu leisten", glaubt Rana, die sich sicher ist, "dass Deutschland im nächsten Schritt für die Gleichberechtigung der Intersexuellen im Alltag kämpfen muss". Bisher wurden sie sogar teilweise belächelt. In Berlin-Friedrichshain beschloss das Bezirksparlament im März, in öffentlichen Gebäuden zusätzliche Unisex-Toiletten einzuführen. Kritiker bezeichneten das damals als "Politik-Irrsinn des Jahres". Für Intersexuelle war das dagegen ein wichtiger Schritt. Am ersten November folgt nun ein weiterer.