Seit Mitte März dreht sich kein Rad. Nun startet an diesem Sonntag auf dem Sachsenring das erste Profi-Radrennen in Europa seit das Coronavirus den Sport lahmlegte - begleitet von einigen Fragen.
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Dietmar Lohr seufzt. "Geplant war das alles anders", sagt er in sächsischem Dialekt und seine Stimme verrät, dass die letzten Tage kraftraubend waren. Der Chemnitzer organisiert seit mehr als 16 Jahren Radrennen auf dem Sachsenring, einer Motorsport-Rennstrecke in Hohenstein-Ernstthal, nahe Zwickau. Doch dieses Jahr ist alles anders. Durch das Coronavirus erschien eine Austragung zunächst unmöglich, dann wieder möglich, bevor alles wieder auf der Kippe stand, ehe nun doch noch an diesem Sonntag Rennen gefahren wird. Aber der Reihe nach.
Seit dem 14. März und dem Ende der französischen Rundfahrt Paris-Nizza und dem Gran Premio de la Patagonia in Chile am Tag darauf, gab es weltweit kein Profi-Radrennen mehr. Der rasche Ausbreitung der Corona-Pandemie hat auch die Räder des Profiradsports stillstehen lassen. Bei einer Rundfahrt in den Vereinigten Arabischen Emiraten hatten sich im Februar Fahrer und Betreuer infiziert, einige Teams wurden für mehrere Wochen unter Quarantäne gestellt. Große Rennen wurden abgesagt oder wie die Tour de France verschoben. Mit den Lockerungen in einigen Staaten sind auch Sportereignisse teilweise wieder möglich: In der deutschen Fußball-Bundesliga sowie bald auch in anderen Ländern. Und jetzt zieht auch der Radsport nach.
Ein "Geisterrennen" auf der Motorsportstrecke
So verkündete Dietmar Lohr auf der Webseite des Vereins Internationales Radrennen Rund um den Sachsenring noch zu Beginn der Woche einen vollen Renntag inklusive Nachwuchsklassen, Senioren- und sogar Jedermannrennen - und das mit Verweis auf die geltende Sächsische Corona-Schutz-Verordnung. Die gab all das aber dann doch nicht her und Organisator Lohr musste den Plan zusammenstreichen: Nur Vertrags- und Kadersportler dürfen starten, das lokale Gesundheitsamt und die sächsische Landesregierung gaben für sie grünes Licht. "Für die Kinder und Jugendlichen der Region, die seit Wochen weiter trainieren, wäre es sicher ein sportliches Highlight gewesen. Aber das geben die Bestimmungen nicht her und wir wollen hier kein Harakiri betreiben", sagt er.
Der langjährige Radsportfunktionär war im Vorjahr noch an der Organisation der Rad-DM auf dem Sachsenring beteiligt, die BORA-hansgrohe-Fahrer Maximilian Schachmann gewann. Die Spitzenfahrer fehlen beim Rennen am kommenden Sonntag, sie sind bei diesem kleinen Rennen nicht startberechtigt. Dabei sind beim Wettkampf über 34 Runden Profis der dritten Kategorie und Kaderathleten wie zum Beispiel Jakob Geßner dabei. Der 20-jährige Sportsoldat fährt für den Rennstall Rad-net Rose, der junge Fahrer ausbildet und entwickelt. Für ihn kam der Neustart der Saison ziemlich überraschend: "Ich habe das Gerücht von einem Rennen erst vor ein paar Tagen gehört und war zunächst pessimistisch." So richtig glauben konnte er es erst, als die Meldebestätigung des Veranstalters im Email-Postfach lag. "Dass wir jetzt starten dürfen, ist großartig", freut sich der zweifache deutsche Juniorenmeister am Berg.
Lohr: "Warum soll das nur im Fußball gehen?"
Gemeinsam mit 50 anderen Athleten wird er zu etwas starten, das Organisator Dietmar Lohr ein "Geisterrennen" nennt: Keine Zuschauer, ein abgesperrtes Renngelände, nur Fahrer, sportliche Leiter und Betreuer sind zugelassen. Und die müssen sich an Hygiene-Regeln halten. "Die Startaufstellung erfolgt mit dem erforderlichen Abstand, es gibt keine Siegerehrung, kein Buffet und keine Schlangen an der Startnummern-Ausgabe. Überall wird Abstand gehalten." Überall? Nein. "Abstand im Rennen? Nein, das ist nicht möglich. Alles andere wäre eine Illusion", ergänzt Lohr und verweist auf die Fußball-Bundesliga, wo die Spieler ebenfalls Körperkontakt haben. "Warum soll das nur im Fußball gehen?"
Doch Zweifel bleiben: Durch den Windschatteneffekt wird im Straßenrennen dicht an dich gefahren, Schweiß, Atemluft und Speichel durch den Fahrtwind kann so Neben- und Hintermänner treffen. Eine viel diskutierte Studie von Forschern der Universitäten Leuven (Belgien) und Eindhoven (Niederlande) legte sogar nahe, beim Radfahren mit höherem Tempo 20 Meter Abstand zu anderen zu halten.
Geht das Konzept auf?
Jakob Geßner, der nebenbei International Management studiert, macht das dichte Gedränge im Peloton keine Sorgen: "Ich bin da pragmatisch. Die Infektionszahlen in der Region sind drastisch zurückgegangen. In meiner Stadt gab es zuletzt kaum Neuinfektionen. Deshalb habe ich auch im Rennen keine Angst, mich anzustecken." Außerdem gehe er davon aus, dass sich auf dem selektiven Kurs des Sachsenrings schnell kleinere Gruppen bilden, weil es nach der langen Pause große Leistungsunterschiede gebe.
So wird der internationale Radsport mit den in den Herbst verschobenen großen Rundfahrten Tour de France, Giro und Vuelta genau hinschauen, wie das kleine Rennen am Sachsenring ablaufen wird. Und ob das Konzept aufgeht. Jakob Geßner hofft auf "eine Initialzündung für den Radsport", die andere Rennveranstalter ermutigen soll. Dafür muss aber zunächst am Sachsenring alles gut gehen.
Momente der Tour de France
Sie ist weit mehr als das größte Radrennen der Welt: Die Tour de France ist ein Nationalheiligtum Frankreichs und versammelt jährlich 12 Millionen Zuschauer am Streckenrand. Die Dramen der Landstraße sind legendär.
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Ena
Rekordvorsprung trotz Rotwein
Maurice Garin (2.v.l.) ist gelernter Schornsteinfeger. Der Franzose legt viel Wert auf eine ausgewogene Ernährung, trinkt andererseits aber auch auf dem Rennrad Rotwein und ist Kettenraucher. Trotzdem gewinnt er 1903 die Premiere der Tour de France - mit dem Rekordvorsprung von fast drei Stunden.
Bild: STR/AFP/Getty Images
"Ihr seid Mörder!"
1910 werden die Fahrer erstmals über den Pyrenäen-Pass am Tourmalet geschickt, damals nicht viel mehr als ein Bergpfad. "Ihr seid Mörder, ja Mörder!", schleudert der Tages- und später auch Gesamtsieger Octave Lapize den Tour-Veranstaltern entgegen. Der 2115 Meter hohe Col du Tourmalet ist heute der am häufigsten gefahrene Pass der Tour und auf seinem Gipfel erinnert eine Statue an Lapize.
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Selbst ist der Radfahrer
Wer auf solchen Pisten fährt, muss immer mit einem Platten rechnen. In den ersten Jahrzehnten der Tour-Geschichte reparieren die Fahrer ihre Räder selbst und tragen deshalb (wie hier 1948) auch einen Ersatzschlauch um die Schultern. Heute gehören Mechaniker in Begleitfahrzeugen wie selbstverständlich zum Tour-Tross.
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Der Meister der Meister
Fausto Coppi zählt zu den populärsten Radstars aller Zeiten. Seine Fans rufen den Italiener "Il Campionissimo", den Meister der Meister. 1949 und 1952 triumphiert Coppi nicht nur bei der Tour, sondern auch beim Giro d'Italia. 1952 stehen erstmals Bergankünfte auf dem Plan der Tour de France - gleich drei. Coppi gewinnt sie alle.
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Der Meister der Herzen
1964 liefern sich die beiden Franzosen Jacques Anquetil (l.) und Raymond Poulidor eines der spannendsten Duelle der Tour-Geschichte. Anquetil wehrt alle Angriffe Poulidors ab und holt sich seinen fünften Tour-Sieg. Die Fans lieben auch den unterlegenen "Poupou", der in seiner Karriere achtmal auf dem Podium landet, aber nie ganz oben.
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Das tragische Ende des Tom Simpson
Er fährt Schlangenlinien: Tom Simpsons tritt immer langsamer, bis der Brite kurz vor dem Gipfel des Mont Ventoux schließlich kollabiert. Herzstillstand. Die Versuche, ihn wiederzubeleben, scheitern. Tom Simpson stirbt während der Tour. Zwar lautet der Obduktionsbefund "Dehydratation", doch in seinem Blut werden Amphetamin und Alkohol gefunden. Zusammen mit Hitze und Anstrengung ein tödlicher Mix.
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Gedenken an Casartelli
Auf schmalen Reifen mit Tempo 100 den Berg hinab - die Tour ist ein Spiel mit dem Risiko. Für manche endet es tödlich: 1935 stirbt der Spanier Francisco Cepeda bei einem Sturz in den Alpen. 1995 erwischt es Fabio Casartelli. Der Italiener verliert in den Pyrenäen die Kontrolle über sein Rad und stirbt wenige Stunden später an seinen Kopfverletzungen. Er trug keinen Helm.
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Der Kannibale
Eddy Merckx gibt alles. Nach dem Etappenerfolg auf dem Mount Ventoux muss der Belgier unters Sauerstoffzelt. Wegen seines unbändigen Siegeswillens wird Merckx "der Kannibale" gerufen. Mit 34 Etappen und fünf Gesamtsiegen steht er in den Rekordlisten der Tour. 1969 gewinnt Merckx neben der Gesamtwertung auch die Sprint- und die Bergwertung.
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Frankreichs Tour-Held
Seit 1985 wartet Frankreich vergeblich auf einen neuen Hinault. In jenem Jahr feiert der Franzose Bernard Hinault den letzten seiner fünf Tour-Siege. Auch heute ist der Nationalheld bei der Rundfahrt beinahe täglich im Bild. Als Mitglied des Organisationsteams gratuliert Hinault bei den Siegerehrungen den Fahrern.
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Das dramatische Finale
Keine der bisher 99 Auflagen ist so knapp wie die Tour 1989. Nach 3285 Kilometern liegt Sieger Greg LeMond (l.) aus den USA die Winzigkeit von acht Sekunden vor dem Franzosen Laurent Fignon (r.). Vor der Schlussetappe hat Fignon noch einen Vorsprung von 50 Sekunden. Doch der schmilzt im Zeitfahren nach Paris dahin, LeMond triumphiert.
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Der Außerirdische
Was Hinault für die Franzosen, ist Miguel Indurain für die Spanier. Der Baske thriumphiert von 1991 bis 1995 als Erster fünfmal in Serie. Vor allem im Zeitfahren dominiert der "Außerirdische" die Konkurrenz fast nach Belieben, auch in den Bergen fährt er stark. Bei Indurain wird ein rekordverdächtiger Ruhepuls von nur 28 Schlägen pro Minute gemessen.
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Triumph mit Schatten
Jan Ullrich (Mitte) stürmt mit eleganter Leichtigkeit 1997 zum ersten deutschen Toursieg 1997 und löst gemeinsam mit Grün-Gewinner Erik Zabel eine Radsport-Euphorie in der Heimat aus. Doch in der Rückschau sind die damaligen Helden, die hier mit dem Franzosen Richard Virenque posieren, keine mehr. Heute weiß man: Alle drei waren - zumindest zeitweise - gedopt.
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Die Tränen der Lügner
Große Emotionen, großes Drama bei der Tour 1998: Frankreichs Liebling Richard Virenque weint, weil er gemeinsam mit seinem Rennstall Festina die Tour verlassen muss. Zuvor war ein Teamwagen voll mit Dopingmitteln entdeckt worden. Virenque und Kollegen beteuerten ihre Unschuld - und mussten später doch gestehen, gedopt zu haben. Der Skandal erschütterte die Tour in ihren Grundfesten.
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Dunkle Wolken über einem Märchen
Ein Sinnbild? Bei seinem ersten Toursieg 1999 verdunkelt sich der Himmel über Lance Armstrong. Ganz so, als wäre es eine Botschaft. Das Märchen vom Krebs-Bezwinger Armstrong, der wie Phönix aus der Asche steigt und von 1999 bis 2005 siebenmal triumphiert, ist zu schön, um wahr zu sein. 2012 wird er überführt, gesteht Doping, wird lebenslang gesperrt und verliert alle Tour-Titel.
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Das böse Steak
Noch ein Held, dessen Story Zweifel weckt: Der Spanier Alberto Contador ist wohl einer der stärksten Bergfahrer der Tour-Gechichte. Doch das Publikum misstraut ihm. Ein Zuschauer verfolgt ihn 2011 verkleidet als Dopingarzt. Sein dritter Tour-Titel im Jahr 2010 ist ihm wegen Dopings aberkannt worden. Contador beteuert bis heute, unwissentlich ein Clenbuterol-verseuchtes Steak gegessen zu haben.
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Permanente Sturzgefahr
"Radsport ist stürzen und weiterfahren", sagen die Profis. Auch bei der Tour. So müssen 2012 nach einem Massensturz bei Tempo 70 insgesamt 13 Fahrer das Rennen aufgeben. Gerade bei den ersten, meist flachen Etappen arbeiten die Tour-Ärzte fast im Akkord. Der Grund: Alle Teams wollen Tagessiege, um den Erwartungsdruck der Sponsoren zu erfüllen. Denn ohne die geht im Radsport nichts.
Bild: AP
Der Jogger vom Mont Ventoux
Radschuhe sind für Läufe denkbar ungeeignet. Die Pedalplatten an den Sohlen geben kaum Halt. Dennoch entscheidet sich der Brite Chris Froome bei der Tour 2016 zu einem Läufchen. Sein Rad ist nach einem Crash am Mont Ventoux kaputt, Ersatz nicht in Sicht. Froome will keine Zeit verlieren und läuft, bis er ein neues Rad erhält. Seine Laufeinlage sichert ihm einen weiteren Tour-Sieg.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Mantey
Auf Biegen und Brechen
Die Tour ist ein täglicher Kampf: um Positionen im Feld, um Sekunden im Gesamtklassement und natürlich um Tagessiege. Die Sprinter sind dabei wenig zimperlich. Mark Cavendish (links in der Bande) und Peter Sagan (2. v. l.) treiben es bei der Tour 2017 auf die Spitze: Ihr Gerangel in Vittel endet für beide schmerzhaft - Cavendish bricht sich das Schulterblatt, Sagan wird disqualifiziert.
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Ena
Nicht alle lieben die Tour
Die Tour ist eine große Bühne, die auch ungebetene Nebendarsteller anzieht: So gibt es immer wieder Proteste, die mit dem Rennen wenig zu tun haben. Bei der Tour 2018 blockieren Bauern die Straße, um für den Erhalt der Landwirtschaft in ihrer Region zu protestieren. Die Polizei setzt Tränengas ein, dessen Wolke den Fahrern ins Gesicht weht. Nach einer Rennunterbrechung geht die Tour weiter.