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Das Geheimnis von Deutschlands Marzipan-Hauptstadt Lübeck

Michael Marek
3. Dezember 2023

Lübeck war einst das Zentrum des wirtschaftlich und politisch mächtigen Hansebundes. Heute präsentiert sich die zweitgrößte Stadt Schleswig-Holsteins als Zentrum der deutschen Marzipan-Herstellung.

Deutschland Lübeck | Marzipan-Produktion bei Niederegger
Marzipan-Produktion bei Niederegger in LübeckBild: Michael Marek/Anja Steinbuch

Marzipan und Lübeck gehören zusammen wie Shakespeare und Stratford, Klopse und Königsberg. Vier Marzipanhersteller gibt es heute in der Hansestadt in Deutschlands nördlichsten Bundesland Schleswig-Holstein. Platzhirsch und Aushängeschild ist "Niederegger". Die Firma ist Inbegriff des berühmten Naschwerks.

Schon draußen auf dem Werksgelände in der Nähe des Trave-Kanals liegt er in der Luft: der süßliche Duft von Mandeln und Schokolade. Bevor es in die Produktionshalle geht, wartet die Hygieneschleuse und das heißt: Schuhe und Hände desinfizieren, weißen Kittel und Haarhäubchen überstreifen.

Auf Marzipan-Tour

Los geht es in der Rohmassenabteilung. Zunächst werden die aus Spanien importierten Mandeln mit Wasserdampf besprüht und gerüttelt, bis die braunen, dünnen Häutchen abfallen. Zuständig dafür: mehrere Frauen, die am Fließband sitzen und schlechte oder nicht gut geschälte Kerne vom Band nehmen.

Dann laufen die Mandeln über ein Förderband zur Station zwei - die Mischwaage. Danach wird alles vermischt, zerkleinert, grob- und feingewalzt. Laut ist es hier überall.

Besprüht, gerüttelt und enthäutet sind die Mandeln auf dem Weg zur nächsten StationBild: Michael Marek/Anja Steinbuch

Das Grundrezept für die Herstellung der Rohmasse ist denkbar einfach: zwei Drittel Mandeln und ein Drittel Zucker. Danach wird der Rohmasse kein zusätzlicher Zucker mehr zugefügt. Damit gilt Niederegger als Lübecker Marzipan: ein fester Begriff und eine von der Europäischen Union geschützte "geographische Herkunftsbezeichnung".

Süße Verbindung

Per Selbstverpflichtung garantieren die Hersteller bestimmte Qualitätsgrundsätze: mindestens 70 Prozent Marzipan-Rohmasse, höchstens 30 Prozent zusätzlicher Zucker. Normales Marzipan besteht nur aus 50 Prozent Marzipanrohmasse und 50 Prozent Zucker.

Die Hauptanbaugebiete für Mandeln liegen in Kalifornien (mit einer Jahresernte von rund 1,2 Millionen Tonnen) und im Mittelmeerraum (vorwiegend Spanien mit 67.000 Tonnen). Die spanischen Mandeln gelten als intensiver im Geschmack.

"Der Herstellungsprozess ist seit langem unverändert geblieben, da ist noch viel Handarbeit im Spiel", sagt Unternehmenssprecherin Kathrin Gaebel. Lange Zeit war Marzipan eine teure Angelegenheit, bis man Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte: Es muss nicht Rohrzucker sein, auch aus Rübenzucker lässt es sich herstellen. Deshalb hatten Orte wie Lübeck mit Hafen und großem Hinterland einen Standortvorteil.

Rezept-Geheimnisse

Produktionshochzeit ist bei Niederegger der Spätsommer. Wenn sich die Touristen an der Ostsee oder im Freibad tummeln, dreht sich hier alles um Weihnachten. Zu den 500 Festangestellten kommen dann noch einmal 250 Saisonkräfte hinzu. "Die Exportware nach Übersee ist schon seit Wochen auf dem Weg und auch ein Großteil der Ware für die großen Einzelhandelsketten ist bereits ausgeliefert", so Gaebel.

Bevor sie sich in schokoladenüberzogene Weihnachtsmänner oder Marzipanbrote verwandelt kann, landet die Marzipanmasse in einem von 20 rotierenden Kupferkesseln, in denen das Mandel-Zucker-Gemisch langsam geröstet wird: unter ständigem Rühren jeweils 100 Kilo der körnigen Masse bei etwa 90 Grad Hitze - so lange, bis die Zuckerkristalle geschmolzen sind. Viele der Maschinen hier sind Sonderanfertigungen und mehr als 50 Jahre alt.

Marzipan-Masse in großen, oft alten MaschinenBild: Michael Marek/Anja Steinbuch

Dann geht es in die sogenannte Anwirkerei. Dort käme nach der Rohmassenproduktion noch ein "kleines Geheimnis" hinzu, erläutert die Unternehmenssprecherin. Genaueres dürfe sie nicht verraten, aber vermutlich sind es Rosenwasser ähnliche Substanzen, die der Marzipanmasse ihren einzigartigen Geschmack verleihen.

Nur sechs Menschen in der Firma würden die genaue Rezeptur kennen, sagt Gaebel. Großes Niedereggergeheimnis.

Feine Süßigkeit mit langer Geschichte

Seit über 200 Jahren besteht das Familienunternehmen mittlerweile. 1806 gründete der Konditormeister Johann Georg Niederegger die Marzipan-Manufaktur und legte damit den Grundstein für eines der renommiertesten Marzipan-Unternehmen weltweit.

Der 1777 in Ulm geborene Zuckerbäcker kam 1800 in die Hansestadt, erlernte hier die Marzipanherstellung und entwickelte sie weiter. Bis zum 18. Jahrhundert galt Marzipan in Lübeck als exklusives Heilmittel, so Gaebel, "und durfte hier nur von Apothekern hergestellt werden" - etwa als Arznei gegen Magenprobleme und zur Steigerung der Potenz.

"Wenn man alte Rezeptbücher anschaut, dann ist Marzipan gegen sehr vieles gut gewesen. Es wird als Aphrodisiakum genannt, aber auch gegen Erkältung", sagt Gaebel.

Aphrodisiakum und Arznei

Für die Ernährungswissenschaft heute ist klar: Das gesundheitliche Plus des Marzipans sind die Mineralstoffe aus den Mandeln, zum Beispiel Kalzium, Kalium und Magnesium. Außerdem ist es reich an Vitamin B, gut für die Konzentration. Das Mandelöl enthält mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die den Cholesterinspiegel im Blut senken. Großer Nachteil des Marzipans: sein hoher Zuckeranteil und Fettgehalt durch die Mandeln.

Automatisierte Herzchenproduktion: Viele Mineralstoffe, aber auch viel Zucker und FettBild: Michael Marek/Anja Steinbuch

Auf unserem Rundgang geht es weiter: Männer schaufeln den festen, hellen Rohmassenbrei in Behälter und kippen ihn in sogenannte Kühlschiffe, wo er zu dampfen beginnt. Hier wird die Masse mit Luft und Stickstoff gekühlt und in quadratische Blöcke vakuumverpackt. Fertig ist die Rohmasse, von der an Spitzentagen bis zu 30 Tonnen produziert werden.

Danach kommt alles ins Kühllager - ein Reifeprozess, damit sich die Aromen weiterentwickeln. Wie lange? Auch darüber schweigt Gaebel. Erst nach dieser Ruhephase wird das Rohmarzipan weiterverarbeitet.

Von der Kühlanlage gelangt die Marzipanrohmasse in die nächste Halle, wird dort maschinell zu Pralinen und Pasteten, Schwarzbrot, Stollen und Sternen, Tafeln und Torten geformt, mit Schokolade überzogen und verpackt.

Vom exklusiven Nahrungsmittel zum Massenprodukt

Während der Produktionsprozess vorwiegend aus Handarbeit besteht, geschieht das Ausformen, das Schokolieren - das Überziehen mit Schokolade - und das Verpacken weitgehend automatisch.

Bei besonderen Produkten sitzen in einem der oberen Stockwerke Mitarbeiterinnen, die von Hand schokoladige Holstentore, also Miniaturen von Lübecks Wahrzeichen, aus Relief-Formen klopfen und mit Pinseln Lebensmittelfarbe auftragen - auch für die Weihnachtsmänner: für Mund, Mütze und Sack. Zum sogenannten Schminken brauche "man Geduld und eine ruhige Hand", weiß Gaebel zu berichten.

Handarbeit: Auch Schweinchen werden "geschminkt"Bild: Michael Marek/Anja Steinbuch

In über 50 Länder wird das "Haremskonfekt", wie Thomas Mann es einst nannte, aus der Hansestadt exportiert. 80 Prozent der Produktion bleibt allerdings dem deutschsprachigen Markt vorbehalten. "Ursprünglich kommt Marzipan aus dem vorderen Orient. Etabliert hat es sich vor allem in Deutschland und in Spanien", so Gaebel. Gleichwohl ist die Herkunft des Wortes Marzipan umstritten.

Vor allem zur Weihnachtszeit ist Marzipan begehrt. 300 unterschiedliche Produkte verlassen die Niederegger Fabrik jeden Tag. Bei über 100 Millionen Euro soll der Jahresumsatz liegen, offizielle Zahlen gibt es nicht. Anfang Dezember ist die Produktion weihnachtlicher Marzipan-Artikel fast geschafft. Doch die nächsten Feierlichkeiten kommen schon bald: Valentinstag und Ostern.

Ob mit Ananas, Orange oder Pistazie - seit Anfang des 19. Jahrhunderts sei die Marzipanrezeptur gleich geblieben, sagt die Pressesprecherin. Übrigens liegt das Originalrezept nicht in einem Tresor, sondern kann angeschaut werden. Im Niederegger Café in der Lübecker Innenstadt ist das historische Papier in einer Glasvitrine ausgestellt.

Die geheimen Zutaten - außer Mandeln und Zucker - sind auf der Rückseite aufgeführt und nicht einzusehen. Wenngleich Lebensmitteltechniker das Geheimnis mit modernen Hilfsmitteln sicher lösen könnten.

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