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Das Herz der Wissenschaft schlägt immer noch in Sibirien

23. Mai 2002

- Akademgorodok wurde 45 Jahre alt

Moskau, 21.5.2002, THE MOSCOW TIMES, engl.

Akademgorodok, Westsibirien - Mit seinen Straßen voller Schlaglöcher und seinen Wohnsilos, halbversteckt zwischen Birken und Kiefern, könnte es irgendeine kleine Stadt in Russland sein. Aber hinter dem ruhigen Äußeren von Akademgorodok verbirgt sich eine Brutstätte der Hochtechnologie. Das "Akadem" verrät bereits die halbe Geschichte, und ein genauerer Blick auf die Schilder über den Gebäudeeingängen erklärt den Rest: Institut für Festkörperchemie, Institut für Zytologie, Institut für Kinetik, Institut für Halbleiterphysik und so weiter. Es ist das Hirn Sibiriens - eine Stadt, die gebaut wurde, um sich der Wissenschaft zu widmen.

Am Wochenende wurde Akademgorodok 45 Jahre alt, aber ganz im Einklang mit der betont intellektuellen Atmosphäre in der Stadt wurde von dem Jubiläum kaum Notiz genommen. Lediglich das Museum am Ort eröffnete aus diesem Anlass eine kleine Ausstellung, auf der einige der wissenschaftlichen Errungenschaften der Stadt demonstriert wurden.

In der Tat - Akademgorodok hat zur Zeit nicht gerade Grund zum Feiern. Die großzügige Unterstützung, die das Städtchen einst von der sowjetischen Regierung erhielt, bleibt nunmehr aus und die 17 000 Mitglieder zählende wissenschaftliche Gemeinde hier haben die Umwälzungen der vergangenen Jahre stark getroffen. Wissenschaftler haben in Scharen die Stadt verlassen, um in der Privatwirtschaft oder in Forschungszentren im Ausland eine besser bezahlte Beschäftigung zu finden, und diejenigen, die geblieben sind, sind gezwungen worden, sich von der Forschung auf das Geldmachen umzustellen.

"Das war sehr schwierig", sagt Aleksej Gordijenko, ein Philosophieprofessor, der nun der Stadtverwaltung vorsteht. "Viele litten unter Stress. Nahezu die Hälfte aller Wissenschaftler brauchte psychologische Hilfe."

Trotz dieser Probleme wird in Akademgorodok alles getan, um sich dem neuen Wirtschaftsklima anzupassen, und Gordijenko beispielsweise sieht die Zukunft optimistisch. "Wir sind Optimisten", erklärt er lachend. "Wir glauben, dass wir es schaffen können."

Es ist schon ein Wunder, dass eine so einmalige Idee, im Herzen Sibiriens eine Stadt der Wissenschaft zu errichten, überhaupt umgesetzt wurde und dass sie dann auch noch so lange überlebte. Dass diese utopische Idee Wirklichkeit wurde, ist hauptsächlich dem sowjetischen Mathematiker Michail Lawrentjew zu verdanken, der davon träumte, in Sibirien ein Wissenschaftszentrum zu errichten, das sich damit befassen sollte, die riesigen Naturschätze dieser Region nutzbar zu machen.

"Der Zweite Weltkrieg hat gezeigt, dass der Osten Russlands viel weniger entwickelt war als der Westen", erklärt die Museumsführerin Olesja Bajkowa. "Man sah ein, dass der Osten als Teil der nationalen Strategie entwickelt werden musste."

Einen prominenten Anhänger seiner Idee fand Lawrentjew in Nikita Chruschtschow, und am 18. Mai 1957 wurde ihm grünes Licht gegeben, hier, 30 Kilometer südlich von Nowosibirsk, in der Tajga, seine Stadt zu bauen.

In den darauf folgenden Jahren kamen Tausende von Wissenschaftlern aus allen Teilen des Landes nach Akademgorodok, um an den 15 neuen Forschungsinstituten zu arbeiten. Es wurde eigens eine Baugesellschaft errichtet, die die Stadt errichten sollte, und schon bald gab es hier Geschäfte, Schulen und sogar einen künstlichen Strand. Noch bevor die Bauarbeiten an den Instituten beendet waren, wurde eine Universität gegründet, um den Instituten neue Fachkräfte zuzuführen. Ein Foto in dem Museum zeigt einen Professor, der eine Gruppe von Studenten unter einem Birkenbaum unterrichtet.

In seinen frühen Jahren erfreute sich Akademgorodok einer bisher nie da gewesenen akademischen Freiheit, die es den Wissenschaftlern ermöglichte, bis dahin verbotene Richtungen der Wissenschaft zu erforschen. Die treibende Kraft war Lawrentjew, der mit Losungen wie "Sibirien wird das Zentrum der Wissenschaft nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der ganzen Welt" Enthusiasmus schürte.

Die Mischung aus berauschender Freiheit und der Mission, Sibirien für den Menschen gastfreundlich zu machen, brachte einige ausgefallene Ideen hervor wie die, sibirische Flüsse umzuleiten, um Zentralasien zu bewässern und den Aralsee zu füllen oder in der Arktis eine Stadt mit einem eigenen Mikroklima unter einer Glaskuppel zu bauen. (...)

Nach der Machtübernahme durch Breschnew wurde Akademgorodok zur Aufgabe gemacht, stärker der Industrie zu dienen, der sowjetischen Planwirtschaft konkrete Gewinne zu bringen. Der Pioniergeist verschwand zum Teil, die Stadt blühte und gedieh jedoch weiter, und zahlreiche technologische Erfindungen wurden hier in die Praxis umgesetzt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde alles anders. Unter Präsident Jelzin blieben die Gelder aus und es begann der wissenschaftliche Exodus. Welch ein Unterschied zu jenen Zeiten, da Absolventen von Universitäten Schlange standen, um in einem der angesehenen Institute der Stadt einen Arbeitsplatz zu finden!

"Die Leute, die damals an der Macht waren, hatten vom technologischen Entwicklungsstand des Landes keinen blassen Schimmer", sagt Gordijenko. "Die Gelder wurden massiv gekürzt." Zwischen 1991 und 1997 sei die finanzielle Hilfe für Akademgorodok auf ein Vierzehntel der ursprünglichen Summe reduziert worden und die Anzahl der Mitarbeiter an den 37 Instituten habe sich um ein Drittel verringert. Allein 1995 und 1996 hätten zwischen 500 und 1000 hoch qualifizierte Wissenschaftler die Stadt verlassen. Erschwerend habe sich die Tatsache ausgewirkt, dass die Industriebetriebe, die erst privatisiert worden waren, nicht in der Lage waren, in die Institute das Geld zu investieren, das die Regierung investiert hatte.

"Es war eine schwere Zeit, denn die Industrie hatte kein Geld (um Forschung und Entwicklung zu finanzieren)", sagt Jurij Tschuguj, der Leiter des Instituts für Technologiekonstruktion. "Zu Sowjetzeiten war es einfacher, denn viele Ministerien waren in der Lage, die Wissenschaft zu unterstützen. Gegenwärtig ist es eigentlich nur das Ministerium für Atomenergie und vielleicht das Ministerium für das Eisenbahnwesen, die sich das leisten können."

Ein weiteres Problem bestand darin, den Anforderungen des freien Marktes nachzukommen. "In der Sowjetunion gab es kaum einen Markt für Hochtechnologien", so Gordijenko. "Die Wissenschaftler (in Akademgorodok) waren gezwungen, ihre Grundlagenforschung aufzugeben und sich mit der Entwicklung einfach herzustellender Produkte zu beschäftigen, die sich gut verkaufen ließen."

Tschuguj sagte, er hoffe, dass sich die Dinge unter Präsident Wladimir Putin, der noch im ersten Jahr seiner Präsidentschaft Akademgorodok besuchte und sich zu Beginn dieses Jahres mit einer kleinen Abordnung führender Wissenschaftler traf, ändern werden. Im März forderte Putin die wissenschaftlichen Einrichtungen mit Nachdruck auf, das Beste aus den begrenzten staatlichen Mitteln zu machen, sich lediglich auf die wichtigsten Forschungsbereiche zu konzentrieren und eine genaue Bestandsaufnahme zu machen.

Gordijenko ist weniger optimistisch. Obwohl das Verhältnis zwischen den Wissenschaftlern und dem Präsidenten besser sei als zu Zeiten Jelzins, seien keine entscheidenden Schritte unternommen worden, um der Wissenschaft zu helfen. "Putin hat einen Dialog in die Wege geleitet, geschehen ist aber nichts."

Da es staatlicherseits kein Anzeichen für Soforthilfe gibt, ist Akademgorodok dazu übergegangen, partnerschaftliche Bande zur Geschäftswelt zu knüpfen. "Unsere Aufgabe ist es, einen Mechanismus der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Betrieben, Investoren und der Industrie zu schaffen", sagte Gordijenko. "Wir müssen die erforderlichen Voraussetzungen schaffen, um Investoren anzulocken."

Ein gewisser Erfolg ist dabei bereits zu verzeichnen. In einem Ausstellungszentrum im Zentrum der Stadt sind einige der neuesten Erfindungen einiger Institute zu besichtigen (...). "Viele der Erfindungen haben bereits Investoren gefunden", sagt Tatjana Taskajewa, eine Mitarbeiterin des Zentrums. "Sie haben Weltklasse-Qualität und sind viel billiger als anderswo." (...)

Auch außerhalb des Ausstellungszentrums ist Akademgorodok alles andere als eine tote Stadt. Am Samstag schlenderten Studenten durch das Haupteinkaufszentrum, verweilten in der Nähe des Pizza-Restaurants "New York", mit Blick auf einen belebten kleinen Platz. Ein junger Mann Anfang zwanzig lieh Inlineskater und Motorroller aus, während in der Nähe drei Studenten Musikmagazine feil boten, die sie selbst erstellt haben. Auf dem Campus der Universität war ein Sportlertreffen in vollem Gange.

Gordijenko meint aber, dass viel mehr getan werden müsse, damit die Stadt überlebt. Die Stadtverwaltung plane den Bau eines Geschäftszentrums mit einem Konferenzsaal und einem Hotel für die Investoren, die in der Stadt zu Besuch sind. Außerdem sollen die Institute neu ausgerüstet werden, was dringend erforderlich sei.

Die Stadtverwaltung mache sich auch Gedanken darüber, wie die Wissenschaftler dazu bewegt werden können, in Akademgorodok zu bleiben. Jungen Wissenschaftlern werde beispielsweise gestattet, zur Aufbesserung ihres Gehalts unabhängig von den Instituten kleine Konstruktions- und Technologiebetriebe zu errichten. "Diese Firmen haben enorme Möglichkeiten", sagt Gordijenko. "Sie könnten jährlich über eine Million Dollar umsetzen."

Obwohl die meisten der besten Studenten der Universität nach Abschluss ihres Studiums immer noch Akademgorodok verlassen, so ist Gordijenko dennoch der Ansicht, dass viele zurückkehren werden, sobald sich die wirtschaftliche Lage in Russland stabilisiert hat. Tschuguj stimmt dem zu: Obwohl die Gehälter im Ausland höher seien, falle es vielen Wissenschaftlern schwer, sich im Ausland zu integrieren und sie dächten an Rückkehr.

Das größte Problem für Gordijenko ist das Geld. Nach seinen Schätzungen werden 2,5 Milliarden Rubel (etwa 80 Millionen US-Dollar) erforderlich sein, um die Infrastruktur der Stadt so aufzubauen, dass sich ausländische Geschäftsleute hier niederlassen können. Gegenwärtig verhandelt die Stadt mit der Regierung über einen 50prozentigen Steuerrabatt für die nächsten drei Jahre, der für dieses Projekt genutzt würde. Gordijenko wirbt auch bei Unternehmen, die aus den sibirischen Naturvorkommen einen Nutzen ziehen, darum, einen Teil ihrer Gewinne zurück in die Region fließen zu lassen.

Obwohl Gordijenko an die nächsten Jahre große Erwartungen knüpft, bleibt er mit beiden Beinen auf dem Boden. "Wir Russen lieben große Ideen", sagt er mit einem Lächeln. "Etwas anderes ist aber, ob sie funktionieren. Wenn nicht, werde ich arbeitslos und werde ein wissenschaftliches Buch schreiben." (TS)