"Das ist nicht die Al-Kaida, das sind wir selbst"
2. April 2004Moskau, 2.4.2004, FERGANA.RU
FERGANA.RU, russ., 2.4.2004
In Taschkent und anderen Städten Usbekistans sind Festnahmen im vollen Gang. Das bestätigt die Befürchtungen der Menschenrechtler und der Opposition, dass die Machthaber die Terroranschläge nutzen werden, um die Maßnahmen gegen jedes Andersdenken zu verschärfen. (...)
In Usbekistan selbst ist man recht skeptisch, was die Behauptungen betrifft, hinter den Anschlägen stecke die Al-Kaida oder andere Kräfte aus dem Ausland. "Die Version mit Al-Kaida, die sich angeblich bei den Usbeken wegen deren Unterstützung der antiterroristischen Operation und der Stationierung von US-Stützpunkten auf dem Territorium des Landes rächt, lag an der Oberfläche, und es wäre eine Sünde, wenn Herr Karimow sie nicht aufgegriffen hätte", sagte ein usbekischer Menschenrechtler, der nicht namentlich genant werden wollte, einem Korrespondenten der Zeitung "Kommersant". "Auf diese Weise versucht das offizielle Taschkent recht ungeschickt der Tatsache auszuweichen, dass die Anschläge von usbekischen Bürgern ausgeübt wurden, die mit dem autoritären Regime unzufrieden sind."
Die Webseiten der oppositionellen Parteien und Bewegungen machen darauf aufmerksam, dass die meisten Terroranschläge gegen Mitarbeiter der Miliz gerichtet sind und nicht gegen einfache Bürger, dass die meisten Einwohner von Taschkent ruhig auf das Geschehen reagieren. Vielmehr könne man in den Bussen und Bahnen der Stadt hören, dass es ihnen [den Milizionären] recht geschehe. Die Korruption bei der usbekischen Miliz ist sei langen in aller Munde. Viele bringen die Miliz auch mit der Verfolgung der Opposition und der Andersdenkenden in Verbindung.
Außerdem verweisen die Beobachter darauf, dass der erste Terroranschlag [eine Selbstmordattentäterin sprengte sich und einige Milizionäre in die Luft] auf dem Markt "Chorsu" verübt wurde. Dieser Markt ist dafür bekannt, dass Leute hierher kommen, um Meinungen auszutauschen und Protest zu äußern. Bereits vorher hatten dort mehrmals Frauen demonstriert, deren Ehemänner von den Rechtsschutzorganen festgenommen worden waren. Vor der ersten Explosion hatten Milizionäre auf dem Markt einen alten Mann getötet, der sich für eine Frau eingesetzt hatte, die von den Ordnungshütern bedrängt wurde. Nach Ansicht der Oppositionellen zeichnen alle diese Fakten ein Bild, das sich von dem über die Teilnahme der Al-Kaida unterscheide.
Der Version, wonach nach den Gründen für die Terroranschläge in Usbekistan selbst gesucht werden muss, stimmte auch der Botschafter Großbritanniens in diesem Land, Craig Murray, zu. "Es ist eine kleptokratische Regierung, die eine Wirtschaftspolitik durchführt, die zur Verarmung des Volkes führt", sagte er. "Zusammen mit den Repressionen und dem Nichtvorhandensein politischer Rechte führt das zur Radikalisierung der Bevölkerung."
Die Machthaber verschärfen unterdessen die Sicherheitsmaßnahmen. Es ist unbekannt, wie viele Personen festgenommen wurden, aber nach Ansicht der Menschenrechtler liegt ihre Zahl weit über der offiziellen [30]. Die Milizionäre von Taschkent sagen, ihnen sei befohlen worden, alle bärtigen Männer festzunehmen. (...) (lr)
FERGANA.RU, russ., 1.4.2004
Am 31. März, am dritten Tag nach Beginn der Anschläge und Schießereien, bei denen über 40 Personen ums Leben gekommen sind, haben die republikanischen Zeitungen lediglich einige Zeilen über die Vorfälle im Land veröffentlicht – eine kurze Erklärung des Außenministeriums. Die meisten Usbeken befinden sich weiterhin im Informationsvakuum.
Offiziellen Meldungen zufolge verurteilen alle Bürger des Landes das Vorgehen der Terroristen. Aber was denken die Leute tatsächlich? Ein Korrespondent von "Fergana.ru" befragte Bürger von Taschkent. Seinen Namen wollte er nicht unbedingt nennen.
Salochiddin, 48, Journalist:
Ich glaube nicht, dass dahinter die Al-Kaida oder eine ähnliche Organisation steckt. Bei uns herrscht solche Armut, dass denen nicht nach uns ist. Wir sind nicht Russland – wir haben kein Tschetschenien. Das ist nicht die Al-Kaida, das sind wir selbst. Weil die Führung Druck auf die Gläubigen ausübt. Es kommt vor, dass eine usbekische Frau sich selbst verbrennt, aber sie töten keine anderen Menschen, ist sie doch eine Frau, eine Muslimin. Der Grund ist darin zu sehen, dass in letzter Zeit harter Druck auf die gläubigen Muslime ausgeübt wird. Ich lebe in einer kleinen Ortschaft und weiß, wie viele Gläubige festgenommen werden, ich weiß auch, dass sie unschuldig sind. Und die Miliz wurde ausgewählt [für die Anschläge], weil sie die Leute festnimmt. Das ist meine Meinung, jeder hat da eine andere Meinung. Die Leute haben bisher noch keine endgültige Meinung.Said, 25, Beamte:
Ich glaube, dass dahinter die Opposition steckt, diejenigen, die mit dem System unzufrieden sind. Die kämpfen gegen den Staat, und der Staat wird durch die Rechtsschutzorgane vertreten. (...)(...)
Nastja, 30:
Ich glaube, dass hinter den Ereignissen in Taschkent die Opposition steckt, die gegen den Präsidenten ist. Ich fahre viel durch die Stadt und mir ist ehrlich gesagt nicht aufgefallen, dass die Einwohner der Stadt sehr traurig sind. Eher das Gegenteil. Die meisten sind zufrieden. Was hier in der Republik los ist – es geht einfach nicht so weiter. Mich hat das überhaupt nicht gewundert – es hätte schon längst passieren können.(...)
Irina, etwa 40 Jahre alt:
(...) Wie kann man denn Terroristen unterstützen? Natürlich nicht. Aber andererseits denke ich, wenn nicht die, dann würde es überhaupt zu keinen Änderungen kommen. Der Präsident hätte in erster Linie aufmerksam darauf achten sollen, was in den Gebieten vor sich geht. Wären die Leute satt, würde so etwas nicht passieren.Nasira, Rentnerin:
Ich glaube, der Grund liegt darin, dass das Volk mit den Dingen unzufrieden ist, die im Staat geschehen. Alle haben kleine Renten, die Kosten für die Wohnungen, Gas und Licht steigen aber von Tag zu Tag. Niemand denkt an das Existenzminimum. (...)(...)
Firusa:
Um die Menschen tut es einem leid, aber die Milizionäre sind selbst schuld, da sie diese Situation provoziert haben, denn die Willkür seitens der Rechtsschutzorgane kennt keine Grenzen. Sie selbst provozieren solche Situationen, indem sie überall Geld verlangen.Händler auf dem "Chorsu"-Markt:
Das ist kein Terroranschlag, das ist eher Rache. Die Milizionäre nehmen die Ware weg, schlagen die Leute zusammen. (...)(...)
Taxifahrer, etwa 30 Jahre alt:
Die Anschläge wurden auf die Miliz verübt, weil vor allem die Organe des Inneren Druck ausüben. Die lassen niemanden arbeiten. Womöglich sahen sie [Selbstmordattentäter] keinen anderen Ausweg – haben Angehörige verloren. Wenn es sich um Gläubige handelt, so wurden womöglich ihre Söhne oder Väter verhaftet.(...)
Gulnara:
Die Wurzeln des Übels liegen leider in der Armut, die im Land herrscht. Das ist meine persönliche Meinung, und ich glaube, dass mir viele zustimmen werden. Ich bin nicht dafür, diese Gräueltaten zu rechtfertigen, aber trotzdem bin ich der Ansicht, dass die meisten Leute, die unter diesen Bedingungen leben, bereit sind, sich sogar für 100 Dollar darauf einzulassen - von einer höheren Summe ganz zu schweigen... Über die Hälfte der Jugendlichen sind bei uns arbeitslos... Hätten wir ein normales Gehalt, würde das wenigstens rechtzeitig ausgezahlt, würde es zu so etwas bei uns nicht kommen. Die Gewalt kommt vom Hunger.Taxifahrer, etwa 45 Jahre alt:
99 Prozent der Leute unterstützen sie [die Terroristen]. Weil wir mit dem Rücken zur Wand stehen – keine Arbeit, kein Geld, du kannst keinen Schritt machen, ohne dich auszuweisen. Die haben sich geopfert, um das Volk auf die Barrikaden zu bringen. (...) (lr)