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Literatur

Leïla Slimani erzählt vom "Land der Anderen"

Christine Lehnen
6. August 2021

Frankreichs Bestsellerautorin Leïla Slimani blickt tief in die Abgründe der Kolonialzeit in Marokko. Und erzählt dabei die Geschichte ihrer eigenen Familie.

Marokko unter französischer Besatzung: Männer der Fremdenlegion sitzen auf Booten an einem Strand.
Marokko war bis 1956 unter französischer BesatzungBild: Art Media/The Print Collector/Heritage/picture-alliance

"Sie war sehr mutig, sie sprach Arabisch und die Berbersprache. Sie war eine lustige, eine unabhängige Frau, die uns immer viele Geschichten auftischte." Leïla Slimanis neuester Roman "Das Land der Anderen", der in Frankreich die Bestsellerlisten anführt, ist inspiriert vom Leben ihrer Großmutter. Als blonde, blauäugige Französin aus dem Elsass im Osten Frankreichs ist sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Marokko ausgewandert, um dort Slimanis Großvater zu heiraten. Dort erlebte sie hautnah die Folgen der französischen Kolonialherrschaft.

In den 1830er-Jahren hatten die Franzosen damit begonnen, ihr sogenanntes zweites koloniales Reich einzunehmen, das an seinem Höhepunkt zu einem der größten Kolonialreiche in der Geschichte zählte. Es erstreckte sich über weite Teile Nordafrikas. Die Unabhängigkeitsbewegungen und Dekolonialisierungsbemühungen nahmen erst nach dem Zweiten Weltkrieg an Fahrt auf. Bis 1956 stand Marokko noch immer unter französischer und spanischer Kolonialherrschaft.

Die marokkanisch-französische Schriftstellerin Leïla Slimani Bild: Francesca Mantovani für Editions Gallimard

Das Leben in Marokko war schwierig - insbesondere für Frauen

Zu diesem Zeitpunkt setzt auch die Handlung von "Das Land der Anderen" an: Ein junges Paar zieht im Jahr 1947 auf eine verlassene Farm, die 25 Kilometer außerhalb Meknès, einer Stadt im Norden Marokkos, liegt. Mathilde ist eine junge Frau aus dem Elsass, die ihren marokkanischen Ehemann Amine kennengelernt hat, als dieser als Soldat der französischen Kolonialarmee das Land von den Nazis befreite.

Leïla Slimani schildert das insbesondere für Frauen beschwerliche Leben in Marokko. Als der Roman 2020 auf Französisch erschien, sprach die französisch-marokkanische Autorin mit der DW über ihre Großmutter und das Marokko der 1950er-Jahre: "Natürlich gab es auch einige Leute, die offener waren, es gab auch Momente des gegenseitigen Respekts, das will ich gar nicht leugnen." Trotzdem betont sie die Ungerechtigkeit von kolonialer und patriarchaler Herrschaft: "Ich interessiere mich in dem Buch für die 'souffrance intime', das intime Leid."

Dans "Le pays des autres", Leïla Slimani touche la diaspora à l'âme

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Genau dieser Schwerpunkt ist es, der Leïla Slimanis Bücher so einzigartig macht: In all ihren Romanen stellt sie das "intime Leid" in den Mittelpunkt, jenes Leid, das man nur denen zufügen kann, die man liebt, und sich selbst. In ihrem Debütroman "Adèle" geht es um eine nymphomanische Frau, die unter ihrer Isolierung auf dem französischen Land leidet. In ihrem zweiten Roman, dem psychologischen Thriller "Dann schlaf auch du", ermordet eine Kinderfrau die zwei kleinen Kinder, die ihr anvertraut wurden und die sie abgöttisch liebt. Im Verlauf von "Das Land der Anderen" wird das junge Paar sich lieben, hassen, schlagen und mit dem Tode bedrohen, während es inmitten der gewaltsamen Unabhängigkeitskämpfe in Marokko seine Kinder großzieht. 

Beliebtheit historischer Romane 

Der historische Roman erlebt in Europa seit einigen Jahren eine neue literarische Blüte. So erkundet die britische Autorin Hilary Mantel in ihren Romanen "Wölfe", "Falken" und "Spiegel und Licht" das kosmopolitische Leben am britischen Königshof Heinrich VIII. und gewann dafür gleich zweimal den renommierten Booker Preis. Der deutsche Autor Daniel Kehlmann stand mit seinem Roman "Tyll", der im 17. Jahrhundert während des Dreißigjährigen Kriegs spielt, 2020 auf der Shortlist des International Booker Preises.

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Anders als Mantel oder Kehlmann konzentriert sich Slimani aber auf das Leben von Frauen - und Männern, denen sie sich unterordnen. Ihre einzigartige Fähigkeit besteht darin, mit scharfem Blick den Schmerz zu sezieren, den Liebe, Mutterschaft, koloniale und patriarchale Unterdrückung zum Vorschein bringen. Gnadenlos enthüllt Slimani die dunklen Seiten, die in jedem Menschen schlummern, seine Widersprüche, Grausamkeiten und Schwächen. Im Kontrast dazu steht ihre abgeklärte kühle Sprache.

Sondergesandte das französischen Präsidenten

Es ist diese besondere Art zu erzählen, die Leïla Slimani zu einem Star der französischen und internationalen Literaturszene gemacht hat. Nach dem Studium in Paris begann sie ihre Berufslaufbahn als Journalistin beim Magazin Jeune Afrique ('Junges Afrika'). Als sie während der Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen und den Arabischen Frühling in Tunesien festgenommen wurde, entschied sie, künftig als freie Autorin tätig zu sein. "Dann schläfst auch du" wurde mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs.

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12:36

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Slimani hat sich auch als Sachbuchautorin hervorgetan: In "Warum so viel Hass?" und "Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt" beschäftigt sie sich als Feministin und Zeitgenossin mit Rassismus und Frauenfeindlichkeit in Europa und Nordafrika. Seit 2017 ist sie Gesandte des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und setzt sich so für die französische Sprache und Kultur ein. Macron bemüht sich, die Kolonialvergangenheit Frankreichs aufzuarbeiten, unter anderem durch die Rückgabe von Kunstobjekten.

Trotzdem, so erzählte Slimani 2020 im französischen DW-Podcast "Pulsations", werde ihre Herkunft überall infrage gestellt: "In Marokko wird mir gesagt, ich sei zu französisch, zu westlich, dass ich mein Land nicht repräsentiere. In Frankreich wird mir manchmal gesagt, ich sei keine echte Französin, da ich aus dem Maghreb stamme. Ich verstehe, wie es ist, im Land der Anderen zu leben."

"Das Land der Anderen" ist der erste Band einer Trilogie von historischen Romanen über das Schicksal der Familie Belhajs, inspiriert von Slimanis eigener Familiengeschichte. Es ist auf Deutsch bei Luchterhand in der Übersetzung von Amelie Thoma erschienen.

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