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Das Leben danach

5. November 2009

Die historische Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl hat für 76 ihrer Abgeordneten das Aus bedeutet. Sie müssen sich einen neuen Job suchen. Aber was machen Politiker, wenn sie ihr Mandat verloren haben?

Kuppel des Reichstages (Foto: DW)
Tschüss Berlin!Bild: AP

Inzwischen sind fast alle Spuren im heimischen Wahlkreisbüro beseitigt: Die Regale sind ausgeräumt, die Computer abgeholt, die Akten archiviert oder zerschreddert. Geblieben sind ein paar Fotos, Briefe vom früheren Bundespräsidenten Johannes Rau und 2000 Kugelschreiber, auf denen steht "Kerstin Griese, Ihre Bundestagsabgeordnete". Doch jetzt, nach neun Jahren im Bundestag, ist Kerstin Griese Ex-Abgeordnete.

Kerstin GrieseBild: DW

Für die 42-Jährige aus Velbert in der Nähe von Düsseldorf kam die Abwahl überraschend, per Handyanruf in der Nacht nach der Wahl, früh morgens um vier. Den Wahlkreis gewann der CDU-Konkurrent und auch der sicher geglaubte Listenplatz 14 reichte dieses Mal nicht. Die Sozialdemokraten hatten zu viele Stimmen verloren.

Scherbenhaufen mit rasender Geschwindigkeit

"Es war so ein Gefühl, als ob man mit 150 gegen die Glasscheibe knallt", sagt Griese. Ihre persönlichen und politischen Pläne waren dahin. "Ich weiß natürlich, dass es in der Demokratie immer auch möglich ist, dass man ein Mandat verliert. Aber ich dachte: Jetzt packen wir's, jetzt schaff ich das noch." Da klingt noch immer viel Wehmut mit - und Ungläubigkeit über den tiefen Fall der einst so stolzen SPD.

Plötzlich fehlen Macht und Bedeutung

Parteikollege Rolf Stöckel hat sich mit seinem Ausscheiden aus dem Parlament längst abgefunden. Er wusste bereits seit gut einem Jahr, dass seine Zeit im Bundestag abgelaufen ist. Die örtliche SPD hatte ihn nicht wieder als Direktkandidaten nominiert. Kein Direktmandat heißt keinen Listenplatz, und das heißt keine Rückkehr nach Berlin. "Man ist im ersten Moment geschockt und enttäuscht und verärgert und wütend. Das Leben ist an solchen Stellen immer ein bisschen undankbar. Aber ich halte das für den Normalfall der Demokratie, nicht für ein Unglück", sagt der 52-Jährige und verschränkt die Arme vor der Brust. Ein solches Ende sei ja auch ein Anfang, eine Chance, Dinge zu machen, für die bisher kaum Zeit war.

Zeit für die Familie, aber weg vom Puls der Zeit

Vor allem seine Kinder freuen sich, dass Stöckel jetzt öfter zuhause ist. Zuhause in Bönen, einem kleinen Ort am Rande des Ruhrgebiets zwischen Unna und Hamm. Zuhause im Bauernhof von 1842, mit Fachwerk und niedriger Decke. Durch die Fenster scheint die Herbstsonne, um seine Füße wuseln die Hunde Murphy und Sunny. Auf der Kommode neben dem Küchentisch liegt sein Smartphone. "Man hat einen tatsächlichen Bedeutungsverlust. Es ruft niemand mehr an und fragt: Wie sollen wir das machen, wer soll bestimmte Funktionen einnehmen, was meinst Du?" Stöckel vermisst, am Puls der Zeit zu sein.

Rolf StöckelBild: DW

"Wenn zum Beispiel die Kanzlerin vereidigt wird und man selbst ist jetzt Privatmann, dann ist man natürlich wehmütig, weil man weiß: Da ist man wahrscheinlich nie mehr dabei."

Neue Herausforderung, neues Amt

Für Kerstin Griese ist die Rückkehr in den Bundestag theoretisch noch möglich. Sie steht auf Platz eins der SPD-Nachrückerliste. Eigentlich wollte sie zuerst mal nur Urlaub machen, mit den Patenkindern Plätzchen backen und dann mal sehen. Aber wieder veränderte ein Anruf ihr Leben. Der Diakonische Rat hat sie zum Vorstandsmitglied des Diakonischen Werks gewählt. Jetzt ist die Ex-Bundestagsabgeornete Griese 'Lobbyistin' für die Evangelische Kirche und arbeitet weiter an den Themen, die ihr wichtig sind: Familie, Integration, Bildung und Gesundheit. "Ich hab unter den Unglücklichen, die aus dem Bundestag rausgeflogen sind, wahrscheinlich viel Glück gehabt", sagt sie. "Obwohl ich so furchtbar gerne Bundestagsabgeordnete war, spüre ich auch die Vorfreude auf eine neue Aufgabe."

Existenzangst ist etwas anderes

Rolf Stöckel weiß noch nicht, wie es für ihn weiter geht. Er hatte Pläne für die Zeit nach dem Mandat. Aber dafür hätte die SPD wieder regieren müssen. Jetzt sortiert er seine Karten neu: "Ich habe in mehrere Richtungen Kontakte hergestellt. Ich hoffe, dass ich im nächsten halben Jahren etwas finde, was mir Spaß macht, wo ich eine Herausforderung sehe." Wenn alle Stricke reißen, kann er wieder in den öffentlichen Dienst zurückkehren. Stöckel war Sozialarbeiter. Aber diese Möglichkeit schiebt er noch von sich weg.

Das Ex-WahlkreisbüroBild: DW

Arbeitlos mit Privilegien

Im Moment ist er erstmal arbeitslos. "Arbeitslos deluxe", nennt er es. Denn jeder ehemalige Abgeordnete bekommt Übergangsgeld. Jedes Jahr im Bundestag entspricht dabei einem Monat. Stöckel war seit 1998 Abgeordneter. Das macht elf Mal monatlich 7668 Euro. "Alles Einkommen, was ich in der Zeit erziele, wird gegen gerechnet. Und das ist ja auch nicht gerade eine Motivation, jetzt sofort wieder anzufangen zu arbeiten", sagt Stöckel. Seine Wohnung in Berlin behält er erstmal für alle Fälle.

Gewohnheitspendler

Auch Kerstin Griese pendelt weiter zwischen dem nordrhein-westfälischen Velbert und Berlin. Noch stehen in ihrem Wahlkreisbüro einige Umzugskisten. Ein paar gehen mit nach Hause, ein paar ins neue Berliner Büro. "Ich bin nicht der Typ, der zuhause sitzt und wartet. Das hätte ich nicht ausgehalten", sagt sie. "Und deshalb hab ich gedacht: Wenn ich so eine tolle Chance bekomme, dann mach ich das jetzt auch mit voller Kraft."


Autorin: Monika Griebeler
Redaktion: Sandra Petersmann

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