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Die Mär vom deutschen Fachkräftemangel

Dirk Kaufmann
14. Dezember 2017

Das "Handelsblatt" hält den Fachkräftemangel für eine Wachstumsbremse, für die "Wirtschaftswoche" ist der Mangel nur ein Mythos - Schlagzeilen und Berichte der vergangenen Wochen. Was stimmt denn nun?

Deutschland | Auftaktveranstaltung zum Forschungsprojekt «Productive 4.0»
Bild: picture-alliance/dpa/dpa-Zentralbild/J. Woitas

In Deutschland geht wieder einmal die Angst um. Jetzt ist es die Sorge, nicht mehr mithalten zu können bei den Herausforderungen der Zukunft: Bei der Entwicklung der E-Mobilität etwa oder allgemein bei der Digitalisierung oder bei den Veränderungen, die die Industrie 4.0 mit sich bringt.

Neben den sogenannten MINT-Berufen (Jobs im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) drohen der Alten- und Krankenpflege sowie den deutschen Schulen ein gravierender Personalmangel. Am ehesten in die Schlagzeilen schaffen es aber stets die MINT-Berufe - hier sehen die Warner gleich den Ruf und die Wettbewerbshärte des ganzen Landes in Gefahr.

Als Grund dafür wird oft genannt: Das können unsere jungen Leute nicht, das haben die nicht gelernt, das werden die auch nicht mehr lernen. Jedenfalls nicht in ausreichender Zahl. Und Menschen aus anderen Kulturkreisen könnten uns da auch nicht helfen, die sprächen ja kein Deutsch und seien oft noch ungebildeter als der deutsche Nachwuchs.

So, kurz zusammengefasst und nur leicht vereinfacht, die Argumente, die diese Form des aktuellen deutschen Kulturpessimismus unterfüttern und für die das passende Schlagwort schon seit einigen Jahren bereitliegt: Fachkräftemangel. Doch bei näherer Betrachtung ist dieser eingängige Begriff gar nicht mehr so plausibel. Im Gegenteil: Es zeigt sich, dass das Problem weit vielschichtiger ist.

Besonders bei den MINT-Berufen sind gut ausgebildete Fachkräfte für die Industrie unverzichtbar.Bild: picture-alliance/dpa

Gibt es ihn schon, den Fachkräftemangel?

In einigen Regionen, etwa in Bayern und Baden-Württemberg, gibt es Firmen, die nicht genug Fachkräfte finden. Dort gibt es relativ viele High-Tech-Unternehmen, die aber in einem vergleichsweise dünn besiedelten Gebiet mit geringer Arbeitslosigkeit heimisch sind. Bundesweit sieht das aber anders aus: In den meisten anderen Bundesländern gibt es deutlich mehr Arbeitsuchende als Jobs und ein Fachkräftemangel ist kein Thema.

Außerdem, präzisiert Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln: "Wir sprechen beim IW eher von Fachkräfteengpässen." Das klinge nicht nur weniger bedrohlich, es sei auch wissenschaftlich korrekt. Der Terminus Fachkräftemangel sei eher Ergebnis sprachlicher Verknappung und journalistischer Zuspitzung. Der Volkswirt präzisiert also: "Wir haben nicht flächendeckend einen Mangel an Fachkräften, sondern Engpässe in bestimmten Berufen. Und in bestimmten Regionen haben es Unternehmen schwer, ihre offenen Stellen zu besetzen."

"Aus meiner Sicht gibt es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel", sagt auch Lars Niggemeyer, Arbeitsmarktexperte und Sozialwissenschaftler aus Hannover. "In den allermeisten Berufen haben wir eine große Zahl an arbeitslosen Fachkräften, für die es wenig freie Stellen gibt. In nur ganz wenigen Berufen ist es tatsächlich schwierig, freie Stellen zu besetzen. Aber das ist nur eine kleine Minderheit aller Berufe in Deutschland."

Jeder Job könnte dreifach besetzt werden

Einen wirklichen Mangel an geeigneten Arbeitnehmer kann es, rein akademisch betrachtet, sowieso nur in einem Land geben, in dem Vollbeschäftigung herrscht. Das hieße: Fast jeder Arbeitsuchende findet eine Stelle und umgekehrt kann fast jede Stelle besetzt werden. Davon ist die Bundesrepublik aber weit entfernt.

Ein Blick auf die Arbeitsmarktzahlen für den November 2017 zeigt das: Laut Statistischem Bundesamt gab es zu diesem Zeitpunkt 2,368 Millionen Arbeitslose und nur 772.000 freie Stellen. Rein rechnerisch kommen also mehr als drei Arbeitsuchende auf eine freie Stelle. Das spricht für einen Mangel an Jobs, nicht für einen Mangel an Arbeitskräften.

Auch wenn nicht jeder Arbeitssuchende jedem möglicherweise speziellen Anforderungsprofil entsprechen kann, ist nur schwer vorstellbar, dass der Bedarf an Fachkräften nicht gedeckt werden könnte. Entsprechende Aus- und Fortbildungsprogramme vorausgesetzt, könnten Facharbeiter wenigstens zum Teil im großen Heer der Arbeitssuchenden gefunden werden.

Auch der Arbeitsmarkt ist ein Markt

Neben dem Blick auf die Zahlen führt auch ein kurzer Gedankengang zu dem Schluss, dass von einem aktuellen Fachkräftemangel nicht die Rede sein kann: Der Arbeitsmarkt unterliegt weitgehend marktwirtschaftlichen Regeln, wie auch unsere soziale Marktwirtschaft allgemeinen Marktregeln folgt. In diesem Fall heißt das: Eine hohe Nachfrage lässt die Preise steigen. Sollten also mehr Fachkräfte nachgefragt werden als auf dem Markt zur Verfügung stehen, müssten die Löhne steigen.

Lars Niggemeyer hat dagegen festgestellt, dass es wohl Lohnsteigerungen gebe, "aber eben keine überdurchschnittlichen." Er verweist dazu auf eine Studie des gewerkschaftsnahen Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW). Das habe die Lohnentwicklung in den Ingenieurberufen untersucht und herausgefunden: "Die Ingenieure haben eine ganz durchschnittliche Lohnentwicklung. Da kann kein riesiger Fachkräftemangel vorliegen, denn dann müssten die Löhne stark überdurchschnittlich gestiegen sein." Das Gegenteil sei aber der Fall: "Wir haben auch viele Ingenieure, die als Leiharbeiter arbeiten müssen." 

An beeindruckenden Werbeideen mangelt es nicht. Doch wer Fachkräfte braucht, muss sie auch ausbilden und fördern.Bild: picture-alliance/dpa

Ist Deutschland arm an Bildung?

Einem Mangel an Fachkräften kann durch eine bessere Ausbildung begegnet werden. Doch Axel Plünnecke vom IW sieht auf diesem Königsweg noch zu viele Steine liegen, er spricht von der "Bildungsarmut" in Deutschland: "Wir wissen aus Studien, dass rund 20 Prozent der Schüler große Probleme haben mit der Ausbildungsreife. Da gilt es, sie noch zusätzlich zu qualifizieren, damit sie dann die Ausbildung erfolgreich absolvieren können."

Dem Argument von der "Bildungsarmut" will Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen nicht unwidersprochen folgen. Der Professor vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen sagt fast in wenig genervt: "Diese Aussagen hört man seit 120 Jahren in gleicher Form. Das wiederholt sich immer."

Aber dennoch: Ein wenig sei schon dran, das sei aber nicht nur die Schuld der Schulen: "Wir haben sehr viele Einzelkinder, die verwöhnt werden und sich nur schwer einfügen. Wir haben Probleme im schulischen Bereich, aber auch bildungsferne Schichten. Etwa durch langjährige Arbeitslosigkeit, wodurch Kindern falsche Vorbilder vermittelt werden. Die meinen dann, dass das Geld von selbst kommt und nicht durch harte Arbeit".

Rettung in Sicht?

Ein Personenkreis, der seit zwei Jahren nach und nach dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, sind die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten. Aus deren Reihen, so IW-Ökonom Axel Plünnecke, könnten auch Fachkräfte rekrutiert werden. Doch werde es noch "drei, vier, fünf Jahre dauern, bis wir die Flüchtlinge am Arbeitsmarkt in größerer Zahl sehen."

Gerhard Bosch vom IAQ widerspricht dem nicht. Er weist aber darauf hin, dass allgemein "sehr viele Zuwanderer die Sprache nicht beherrschen". Und das werde oft auch weitergegeben an die nächste Generation. "Diese Probleme sollte man nicht kleinreden."

Die Zahlen, die das IW dazu erhoben hat, stimmen Axel Plünnecke jedoch zuversichtlich: "Wir sehen bereits heute, dass sich alleine in den MINT-Berufen die Beschäftigtenzahl von fünf auf zehntausend im letzten Jahr verdoppelt hat. Und der Anteil der beschäftigten Flüchtlinge in diesen Engpassberufen steigt sogar stärker als in anderen Berufen. Das macht uns ein bisschen Hoffnung."

Auch für Zuwanderer gilt: Bei entsprechender Eignung und Förderung können auch sie dazu beitragen, dass Deutschland nicht zurückfällt.Bild: picture-alliance/dpa/R. Jensen

Das duale System

Für die Ausbildung von Fachkräften sind aber nicht nur Schulen und Universitäten verantwortlich, sondern auch die Unternehmen selbst. Nicht umsonst bildet sich die deutsche Wirtschaft ja einiges ein auf ihr "duales System" in der Ausbildung.

Lars Niggemeyer etwa stellt bei vielen Unternehmen fest, "dass die ganz spezialisierte Arbeitskräfte haben möchten, die sich genau mit ihren Betriebsabläufen auskennen und unmittelbar einsetzbar sind. In einer drei oder dreieinhalbjährigen dualen Ausbildung können Menschen in der Regel genau das lernen, was sie im Betrieb brauchen."

Aber, legt er sogleich den Finger in die Wunde: "Wir stellen fest, dass die Ausbildungsbereitschaft von Unternehmen in großen Teilen gesunken ist". Womit die Wirtschaft, den Mangel, den sie behauptet und beklagt, wenigstens zum Teil mit zu verantworten hätte.

Ausblick

Auch wenn es heute noch nicht wirklich einen Mangel an Fachkräften gibt - was ist mit der Befürchtung, es könne in einigen Jahren dazu kommen? Vorhersagen seien eben immer problematisch, meint Gerhard Bosch. Und gerade auf diesem Feld seien die Unwägbarkeiten groß: Wie verhält es sich zukünftig mit Ab- und Zuwanderung in Deutschland? Was ändert das an der demografischen Entwicklung? Wie entwickelt sich die Wirtschaft?

Gerhard Bosch bleibt beim Blick in die Zukunft daher skeptisch: "Es gibt Modelle, nach denen wir ganz viele Arbeitsplätze durch die Digitalisierung verlieren, wir also ein Problem mit Massenarbeitslosigkeit bekommen. Auf der anderen Seite haben wir Modelle, die vorhersagen, dass uns bis zu sechs Millionen Fachkräfte fehlen werden. Da ist eine große Spannbreite. Ich halte das nicht für sehr glaubwürdig."

Für Lars Niggemeyer wird der Fachkräftemangel gar nicht einmal das eigentliche Problem sein: "Beim Blick auf die letzten 20 Jahre stellen wir fest, dass große Teile der arbeitenden Bevölkerung von der allgemeinen Lohnerhöhung abgehängt wurden. 40 Prozent der Arbeitnehmer haben Reallohnverluste. Ich würde sagen: Wir brauchen höhere Löhne. Das ist unser Hauptproblem. Nicht ein Fachkräftemangel, den es so gar nicht gibt"

Auch für Gerhard Bosch ist der Blick zurück hilfreich, wenn er die Warnungen vor dem Fachkräftemangel einschätzen soll: "Generell sind alle Horrorprognosen der vergangenen Jahre nicht eingetroffen. Wenn die eingetroffen wären, dann wären bei uns ja schon zum Teil die Lichter ausgegangen."

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