Nazi-Vergangenheit in Griechenland
4. Oktober 2016Argyris Sfountouris hinterlässt einen bleibenden Eindruck, wenn er im Fernsehen auftritt. Das Thema der ZDF-Sendung "Die Anstalt": Griechenland, die Eurokrise und Reparationszahlungen. In einem kurzen Bühnen-Sketch wird mittendrin die Geschichte von Distomo wiedergegeben - einem kleinen Ort in Mittelgriechenland, in dem die Nationalsozialisten grausamer gewütet haben als sonst irgendwo im Land. Kaum jemand weiß davon.
Während des Sketches ist die ganze Zeit im Hintergrund das Bild eines kleinen Jungen zu sehen. Sein Name: Argyris Sfountouris, vier Jahre alt. Als 1944 die SS-Truppen Distomo völlig niederbrennen, Frauen vergewaltigen und mit ihren Kindern erschießen und abschlachten, ist der kleine Junge mittendrin. Seine Eltern werden brutal ermordet, genauso wie 32 weitere Verwandte von ihm. Seine Schwester rettet ihn in letzter Sekunde aus dem brennenden Haus.
Die Sendung verfolgt an diesem Abend auch der deutsche Journalist Patric Seibel. Der mittlerweile 76-jährige Argyris ist sogar live in der Sendung zu Gast und schildert aus erster Hand, was damals in seinem Dorf geschehen ist. Und dass er bis heute weder eine Entschädigung noch eine offizielle Entschuldigung von der Bundesregierung bekommen hat. Seibel ist berührt, als er die Geschichte des älteren Herren hört. Er fühlt sich "emotional umgeworfen", wie er später im DW-Interview erzählt. Er möchte Argyris Sfountouris persönlich kennenlernen - und trifft sich mehrmals mit ihm.
Das SS-Massaker von Distomo
Patric Seibel befasst sich eingehend mit Sfountouris Vergangenheit - und dem Nazi-Terror in Griechenland, von dem wenig bekannt ist. Die Geschichte von Distomo ist besonders tragisch und grausam: Am 10. Juni 1944 bekommen die deutschen SS-Truppen die Anweisung, alle Einwohner wahllos zu töten und das Dorf auszulöschen. Ein Racheakt für den Gegenangriff griechischer Widerstandskämpfer, der sieben deutschen Soldaten das Leben gekostet hatte. Nach dem Massenmord in Distomo waren 218 Tote aus der griechischen Zivilbevölkerung zu beklagen, kaum einer der Dorfbewohner entkam.
Seibel schildert in seinem Buch diese historischen Geschehnisse. Im Mittelpunkt steht jedoch Argyris Sfountouris, dessen Lebensgeschichte den Journalisten tief beeindruckt hat. Das betont er auch in seinem Buch, das den Titel trägt: "Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals". Der Satz stammt von Sfountouris selbst: "Wenn ich zurückblicke auf das, was geschehen ist, denke ich nicht mit dem Intellekt, den ich heute habe", sagt er im DW-Interview, "sondern so, wie ich damals versucht habe diese Erlebnisse zu verstehen."
Mit acht Jahren verlässt Argyris Sfountouris seine Heimat Griechenland und kommt ins Pestalozzi-Kinderdorf in Trogen in der Schweiz. Er wächst zusammen mit anderen Kriegswaisen auf, geht zur Schule, studiert und arbeitet dann als Physiklehrer an Schweizer Schulen. Außerdem ist er ehrenamtlich aktiv und begleitet verschiedene Entwicklungshilfeprojekte in Afrika und Asien - immer an der Seite der Schwachen dieser Welt.
Die Geschichte eines modernen Heiligen
In dem gerade erschienenen Buch wird die ganz persönliche Geschichte Sfountouris mit der Griechenlands verwoben und verknüpft. Der mittlerweile erwachsene Argyris lebt inzwischen in Zürich, verfolgt aber systematisch die politischen Geschehnisse in seiner Heimat. In den 1970er Jahren herrscht dort die Militärdiktatur. Sfountouris trägt seinen Teil zum Kampf gegen die Junta bei, indem er Texte ins Deutsche übersetzt und Lyrik veröffentlicht, die in Griechenland vom Regime verboten ist.
Doch nicht nur sein Lebensweg ist bemerkenswert. Patric Seibel ist auch überrascht von Sfountouris starker Persönlichkeit. "Obwohl er als Kind so etwas Entsetzliches erlebt hatte, ist er ein Mensch, der durch seine Freundlichkeit, durch seine Friedfertigkeit unglaublich beeindruckt", sagt er im DW-Interview. "Er hat nichts Verbittertes. Obwohl er natürlich auch nichts vergessen hat. Er ist beharrlich geblieben, ist ein Mensch mit ganz klaren Prinzipien. (…) Vielleicht ist der Begriff ein bisschen zu stark, aber auf mich wirkt er fast wie ein moderner Heiliger."
Der Kampf um Gerechtigkeit
Wenn Seibel über Sfountouris Beharrlichkeit spricht, bezieht er sich auch auf dessen Kampf um die Zahlung von deutschen Reparationen an Griechenland. Die Geschichte des kleinen Jungen aus Distomo war Auslöser für den Autor, sich intensiver mit den Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten in Griechenland auseinanderzusetzen. Und auch mit dem, was nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen - oder nicht geschehen - ist. In einem Kapitel widmet er sich dem Thema Entschädigungszahlungen von deutscher Seite, und der unnachgiebigen Haltung Deutschlands, dieses heikle Thema als abgeschlossen zu betrachten. Seibel sieht die Bundesregierung im Unrecht und argumentiert dagegen: "Die Schuld der Deutschen ist offenkundig, rechtlich und auch moralisch denke ich. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die aktuelle Bundesregierung gleichwohl an ihrer Haltung etwas ändern wird."
Aber Argyris Sfountouris gibt den Kampf nicht auf. Seit 20 Jahren versucht er, sich bei deutschen Politikern Gehör zu verschaffen. Den Schritt der griechischen Regierung, das Thema öffentlich anzusprechen, auch wenn es für viele zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt kommt, kann er nur begrüßen. Griechenland versuche finanziell wieder auf die Beine zu kommen und kämpfe um das Vertrauen seiner EU-Partner, zu denen auch Deutschland gehört, sagt er. "Es ist schwierig, das richtige Timing zu finden. Für die Deutschen gibt es kein richtiges Timing. Es muss also einen gewissen Druck geben. Ich habe zu Alexis Tsipras gesagt, als ich ihn letztes Jahr besucht habe, dass ich glaube, dass diese Forderung auf internationaler Ebene stattfinden muss."