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Massensterben der Arten - Gefahr auch für die Menschheit

21. Juni 2022

Die Artenkrise bedroht die Zukunft der Menschheit. Derzeit laufen Gespräche über ein neues internationales Schutzabkommen zum Erhalt der Biodiversität. Worum geht es genau? Ein Überblick.

Ein Mann steht an einem Strand in Horcones in Chile, der über und über mit Fischkadavern bedeckt ist
Apokalyptische Szene: Im Februar 2021 wurden in Horcones in Chile Massen an toten Fischen angespült Bild: Jose Luis Saavedra/REUTERS

Vor unseren Augen spielt sich tagtäglich ein Massensterben ab - und doch nehmen wir es kaum wahr, denn es geschieht leise. Die Aussterbenden verschicken keine Online-Petitionen, sie veranstalten keine Demonstrationen - oft kennen wir sie nicht einmal. Von den geschätzten acht Millionen Tier-, Pilz- oder Pflanzenarten auf unserer Erde wurde laut dem internationalen Biodiversitätsrat IBPES bis jetzt nur ein Bruchteil wissenschaftlich beschrieben.

Doch die Situation könnte kaum dramatischer sein: Schon bis 2030, so die Wissenschaft, könnte die Welt um rund eine Million Arten ärmer sein - alle zehn Minuten stirbt eine Art aus. Das ist fatal, denn eine artenarme Welt ist eine gefährliche Welt - auch für uns Menschen.

Rund 200 Staaten wollen dieses Jahr auf der 15. UN-Biodiversitätskonferenz in Kanada ein neues internationales Rahmenabkommen zum Schutz der Artenvielfalt beschließen. Diese Woche soll in Nairobi in Kenia der Abschlusstext dafür vorbereitet werden. Gelingt es der Weltgemeinschaft, die Artenkrise zu stoppen? Warum ist das so wichtig und was hat wirksamen Schutz bisher verhindert?

Was bedeutet Biodiversität - und was ihr Verlust?

"Ob die Luft zum Atmen, sauberes Trinkwasser, Nahrung oder Kleidung, Brennmaterialien, Baustoffe (...) oder Arzneien – auf der großen Vielfalt der Ressourcen, die uns die Natur zur Verfügung stellt, basiert unser Leben, unsere Gesundheit, unsere Ernährung, unser Wohlbefinden" - heißt es in einem aktuellen Bericht des Leibniz-Forschungsnetzwerk Biodiversität.

Mehr als zwei Drittel aller Feldfrüchte weltweit, darunter viele Obst- und Gemüsesorten, Kaffee und Kakao sind von natürlichen Bestäubern wie Insekten abhängig. Fehlen diese, dürfte sich das Nahrungsangebot für uns Menschen deutlich verknappen. Doch schon heute ist ein Drittel aller Insektenarten weltweit vom Aussterben bedroht.

Auch für die Medizin wäre ein noch stärkerer Verlust der biologischen Vielfalt eine Katastrophe, denn viele Medikamente kommen aus der Natur - rund 70 Prozent sind es allein bei der Krebsbehandlung.

"In der biologischen Vielfalt ist das Wissen von 3,5 Milliarden Jahren natürlicher Evolution gespeichert", erklärt Klement Tockner, Professor für Ökosystemwissenschaften und Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft. "Der voranschreitende Verlust unseres Naturkapitals stellt die größte Gefahr für die gesamte Menschheit dar - denn: einmal verloren, ist für immer verloren."

Was ist der Grund für das weltweite Artensterben?

Wir Menschen - oder besser gesagt, die Art, wie wir leben und wirtschaften. Wie der Erdüberlastungstag zeigt, entnehmen wir der Erde jedes Jahr mehr Ressourcen als sie wiederherstellen kann.

Der Einsatz von Chemikalien in der Landwirtschaft ist einer der Gründe für das Artensterben Bild: M. Henning/picture alliance/blickwinkel

Durch unsere Landwirtschaft, die Flächenversiegelung für Infrastruktur, durch Waldrodung, Überfischung, das Einbringen von Giftstoffen in die Natur sowie durch die Verbreitung invasiver Arten durch den Menschen ist die Aussterberate heute bis zu 100-mal höher als sie es ohne menschlichen Einfluss wäre.

Ein paar Arten weniger - ist das wirklich so schlimm?

Im Laufe der Evolution sind schon immer Arten ausgestorben. Doch noch nie hat es einen so starken Artenverlust innerhalb so kurzer Zeit gegeben. So ging der Bestand an Wirbeltieren zwischen 1970 und 2014 laut der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung weltweit um 60 Prozent zurück, in Süd- und Zentralamerika sogar um fast 90 Prozent. Die Anzahl der im Süßwasser lebenden Arten reduzierte sich im selben Zeitraum um 83 Prozent. Bis zu 39 Prozent der pflanzlichen Vielfalt gelten als vom Ausstreben bedroht.

Fehlen Frösche als Mückenfresser, breiten sich die Moskitos und mit ihnen auch Krankheiten ausBild: Christian Hager/dpa/picture alliance

Wie stark sich selbst Verluste innerhalb von nur einer Gattung auf uns Menschen auswirken können, beschreibt Johannes Vogel, Professor für Biodiversität und Generaldirektor des Berliner Museums für Naturkunde: "Weil sich durch den Klimawandel ein Pilz ausbreitet, sterben derzeit weltweit die Frösche aus. Frösche fressen Mücken und viele Mückenlarven - also wird es künftig mehr Mücken geben. Und Mücken sind die Organismen, die die allermeisten Toten auf der Welt verursachen." Allein an der durch Mücken übertragenen Infektionskrankheit Malaria stirbt jedes Jahr etwa eine Million Menschen.

Wie der Mensch ganze Ökosysteme bedroht

Der Verlust der biologischen Vielfalt betrifft nicht nur Tier-, Pilz- und Pflanzenarten und deren Genpool, auch Ökosysteme und Landschaften sind bedroht. Ein Ökosystem lässt sich als das Zusammenwirken bestimmter Arten untereinander und mit ihrer Umwelt beschreiben. Ist ein Ökosystem intakt, regeneriert es sich bei einzelnen Schäden selbst, es wird sozusagen wieder "gesund".

"Aber je stärker wir Arten reduzieren, desto störungsanfälliger wird ein System", sagt Andrea Perino vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) der Universität Halle-Jena-Leipzig.

Die österreichische Klimasorganisation Allrise macht Brasiliens Regierung für den Verlust von 4000 km2 Regenwald pro Jahr verantwortlich

Ein Beispiel für den Verlust eines intakten Ökosystems ist der Regenwald im Amazonasgebiet. Nachdem der Wald in den vergangenen Jahrzehnten für den Anbau von Futtermitteln, die Viehzucht oder die Ausbeutung von Bodenschätzen stark gerodet wurde, erholt sich auch der noch verbliebe Amazonaswald immer schlechter von Störungen, wie eine aktuelle deutsch-britische Studie zeigt. Und das wiederum erhöht das Risiko, dass der gesamte Regenwald am Amazonas abstirbt.

Warum ist der Schutz der Biodiversität so schwierig?

Schon 1992 wurde auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro das internationale Übereinkommen über den Schutz der biologischen Vielfalt beschlossen, die Convention on Biological Diversity (CBD).

Darin erklärten die 178 Unterzeichnerstaaten, dass sie nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweisen fördern wollten, um die Erneuerungsfähigkeit der natürlichen Ressourcen unserer Erde nicht zu überschreiten. Weitere Konferenzen und Abkommen folgten. Doch kaum eines der gesetzten Ziele wurde bis heute auch nur im Ansatz umgesetzt, wie der jüngste CBD-Bericht zeigt.

Trockengelegte Moore emittieren enorme Mengen CO2 - dennoch wurden im Jahr 2019 wurden in Niedersachen in Deutschland auf rund 10.000 Hektar rund acht Millionen Kubikmetern Torf abgebautBild: NABU/Willi Rolfes

Das Problem: Die Vertragsstaaten müssen eigene Schutzziele fassen, so Andrea Perino vom iDiv. Viele dieser nationalen Ziele seien aber nur Absichtserklärungen gewesen ohne konkrete Maßnahmen - vor allem in den Industrienationen.

Bis jetzt gebe es keine Instrumente, um die Umsetzung der Ziele überhaupt zu messen. "Oft ist gar nicht klar, ob die Schutzmaßnahmen überhaupt etwas bringen - oder ob man nachbessern muss. Wir brauchen dringend ein flächendeckendes Monitoring."

Warum sprechen wir mehr über das Klima als über die Natur?

"Während wir bei der Klimakrise auf das 1,5-Grad-Ziel hinarbeiten können, ist der Kampf gegen die Krise der Natur viel komplexer, er lässt sich nicht so einfach auf ein Schlagwort reduzieren", meint Nicola Uhde, Expertin für globale Biodiversitätspolitik bei der Umweltschutzorganisation BUND. Und: "Ein Bewusstsein für den Wert von Natur entsteht oft erst mit ihrem Verlust."

Das 1,5-Grad-Ziel ist eine klare politische Vorgabe und Schlagwort zugleichBild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Anders als Überflutungen, Dürren oder schmelzende Gletscher schaffen es sterbende Frösche selten in die Schlagzeilen. Dabei befeuern sich Klima- und Artenkrise gegenseitig: Werden Wälder gerodet oder Moore trockengelegt, verschwinden sie nicht nur als Ökosysteme mit ihren Arten - sie fehlen auch als CO2-Speicher, was wiederum die Erderhitzung verstärkt.

Deswegen müsse man beide Krisen gemeinsam angehen, sagt Klement Tockner von der Senckenberg Gesellschaft. "Renaturierungen, wie die Wiedervernässung von Mooren, helfen nicht nur der biologischen Vielfalt, sondern auch dem Klima."

Was sind die Knackpunkte bei der COP15?

In den Vorverhandlungen der in Kanada anstehenden UN-Biodiversitätskonferenz erklärten die rund 200 Vertragsstaaten unter anderem, dass sie künftig 30 Prozent der globalen Land- und Meeresfläche unter Naturschutz stellen wollen.

Der Werbellinsee im UNESCO-Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin - nur die Kernzonen der Reservate stehen unter strengem Schutz Bild: picture-alliance/dpa

Das klinge zwar gut, so Andrea Perino, "aber was ist denn mit "Schutz" genau gemeint? Es gibt ja strenge und schwache Schutzkategorien. Und oft findet die Natur nicht durch Schutz, sondern erst durch Renaturierungen ins Gleichgewicht zurück."

Der BUND fordert, dass eine 30-Prozent-Regel für jedes Land gelten soll. "Damit nicht nur solche Gebiete zu Schutzgebieten erklärt werden, in denen es eh nur noch wenige Arten gibt", erläutert Nicola Uhde.

Ein weiterer Knackpunkt der Verhandlungen ist die Finanzierung der Schutzmaßnahmen. Während die ursprüngliche Natur in den meisten reichen Ländern im Zuge der Industrialisierung verloren ging, gibt es in vielen wirtschaftlich schwächeren Staaten noch deutlich mehr biologische Vielfalt.

Gerodeter Regenwald in der Demokratischen Republik Kongo: Was ist uns der Schutz ursprünglicher Natur wert? Bild: SAMIR TOUNSI/AFP/Getty Images

Um die besser schützen zu können, fordern die ärmeren Nationen mehr Unterstützung, etwa in Afrika; reiche Staaten sollten ihre Finanzhilfen von derzeit 160 auf 700 Milliarden Dollar bis zum Jahr 2030 aufstocken. 

Außerdem müsse die Staatengemeinschaft politische Rahmenbedingungen schaffen, die "den Menschen ein Leben ermöglichen, das die biologische Vielfalt schont", sagt Nicola Uhde. "Es darf nicht mehr normal sein, dass wir Produkte konsumieren, die aus Raubbau stammen, wie Palmöl, für das der Regenwald gerodet wurde. Auch der Individualverkehr, der Verzehr tierischer Produkte, der Energieverbrauch muss sinken."

Altbekannte Forderungen - angesichts der rasanten Artenkrise jedoch so aktuell wie nie.    

Können wir das Artensterben aufhalten?

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Jeannette Cwienk Autorin und Redakteurin, Fokus unter anderem: Klima- und Umweltthemen
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