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Film

"Das Neue Evangelium" von Milo Rau im Kino

Philipp Jedicke
17. Dezember 2020

Milo Raus Film ist eine radikale Interpretation der Jesusgeschichte, die mit Wucht und Ehrlichkeit wachrüttelt. Jetzt feiert sie ihre digitale Kinopremiere.

Filmstill aus "Das neue Evangelium": Ein Mann trägt als Jesus verkleidet ein Kreuz, beobachtet von römischen Soldaten und zwei Frauen
Im wahren Leben Aktivist: Yvan Sagnet spielt JesusBild: Fruitmarket Langfilm/IIPM/Armin Smailovic

Verschlammte Straßen, vor sich hin rostende Autos, provisorische Unterkünfte, Müllhaufen. Das sind die traurigen Bilder, die zu Beginn von "Das Neue Evangelium", dem aktuellen Film von Milo Rau, die Alltagsrealität der Erntehelfer nahe der süditalienischen Stadt Matera zeigen.

Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten. Sie haben keine Aufenthaltserlaubnis und ackern stundenlang unter sengender Sonne oder in klirrender Kälte für einen Hungerlohn auf den Tomatenfeldern und in den Orangenplantagen. Angeheuert und überwacht werden sie dabei von den "caporali", den Vorarbeitern. Die Agrarwirtschaft der Region wird von der Mafia kontrolliert. Niemand kommt im Umland Materas an deren Verbindungsmännern vorbei. 

Inspiriert von der Realität

Als der Schweizer Regisseur Milo Rau 2017 zum ersten Mal in Matera zu Gast war, besuchte er nicht nur die legendären Drehorte der Jesusverfilmungen von Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson - er ging auch in die Lager der Feldarbeiter und war schockiert von dem, was er sah. "Nach zwei Tagen war ich komplett am Ende, und ich habe mich gefragt: 'Wie kann man das energetisch eine Woche überleben?'", so Rau gegenüber der DW. "Es ist da wirklich kalt im Winter, eine unglaubliche Gewalt herrscht dort, man ist am Verhungern."

Jesus im Tomatenfeld: Yvan Sagnet kämpft im Film wie im wahren Leben gegen unmenschliche ArbeitsbedingungenBild: Armin Smailovic

Die Zustände in den Lagern in unmittelbarer Nähe der europäischen Kulturhauptstadt 2019 erinnerten ihn an die Situation, die im Neuen Testament beschrieben wird: "Römische Okkupation, Leute ohne Rechte, die ausgenutzt werden." Und genau an diesem Ort entstand sein Konzept für "Das Neue Evangelium": Rau wollte die Jesus-Geschichte mit Laiendarstellern nacherzählen und dabei die Alltagsrealität der Geflüchteten abbilden.

Die Rollen von Jesus von Nazareth, den zwölf Aposteln, den Pharisäern und Römern übernahmen Aktivistinnen und Aktivisten, Feldarbeiter, ehemalige Prostituierte, Landwirte, aber auch Schauspielerinnen und Schauspieler aus bereits existierenden Jesus-Filmen: Maia Morgenstern, die Maria aus Mel Gibsons "The Passion of the Christ" und der kürzlich verstorbene Enrique Irazoqui, der Jesus aus Pasolinis "Das Evangelium nach Matthäus".

Ein nachhaltiges Kunstprojekt

"Das Neue Evangelium" wird getragen vom Charisma und der Authentizität seiner Darsteller. Yvan Sagnet ist im Film Jesus von Nazareth und er selbst: ein Sozialaktivist, der die untragbaren Lebensumstände der Arbeiter auf den Tomatenfeldern beenden will. Seit Jahren setzt sich der Preisträger des italienischen Verdienstordens "Ordine al Merito della Repubblica" mit seinem Verein "NoCap" gegen die Ausbeutung von Landarbeitern und für fair gehandelte Produkte ein, die ganz ohne die Strukturen der lokalen Mafia entstehen. 

Papa Latyr Faye, der Darsteller des Petrus, ist Gründer und Präsident der Organisation "Casa Sankara - Ghetto Out". Im Film wie auch in seinem Alltag kämpft er für Selbstbestimmung der Tagelöhner und beschafft ihnen menschenwürdigen Wohnraum und legale, selbstverwaltete Arbeitsplätze. 

Papa Latyr FayeBild: Privat

Für ihn war der Film "eine Gelegenheit, mit den Dingen, die wir tun, ein größeres Publikum zu erreichen und eine Botschaft zu verbreiten: Wir sind Protagonisten. Wir sind Menschen, die über ihre Zukunft entscheiden wollen. Wir wollen nicht in Abhängigkeiten leben, sondern sie hinter uns lassen", sagt er der DW.

Und er ergänzt: "Der Film war für uns kein Fremdkörper, sondern er wurde Teil unserer Arbeit, unseres Alltags als Aktivisten. Wir konnten dadurch mehr internationale Kontakte aufbauen und verstärken. Es war ein neuer Schritt in unserem Kampf, den wir produktiv nutzen konnten."

Eine künstlerische Herausforderung

Unterstützung für sein Vorhaben erhielt Milo Rau unter anderem von dem deutschen Produzenten Arne Birkenstock. Die beiden kennen sich schon lange, und seit Raus Film "Das Kongo-Tribunal" arbeiten sie auch zusammen. "Milo nimmt mit der Passionsgeschichte eine der grundlegenden Mythen des Abendlandes und erzählt darüber auch vom moralischen Versagen des Abendlandes heute - zum Beispiel in der Flüchtlingskrise und in der mindestens unterstützenden Duldung dieser Zustände auf den Plantagen", so Birkenstock im DW-Interview. "Und da müssen wir Deutschen gar nicht nach Süditalien gucken, wenn wir nur mal an die Zustände in der hiesigen Fleischindustrie denken."

Das letzte Abendmahl auf Plastikstühlen: Milo Rau (stehend) gibt RegieanweisungenBild: Fruitmarket Langfilm/IIPM/Armin Smailovic

Künstlerisch herausfordernd war das Projekt auch, schließlich sollten Realität und Fiktion miteinander verwoben werden, darunter "die großen Vorbilder des Passionsfilms von Pasolini bis Gibson, die politische Kampagne, das Making Of und die systematische Ausbeutung von Flüchtlingen und Landarbeitern."

Aktivismus und Ästhetik

Was sich im wahrsten Sinne anhört wie ein Himmelfahrtsprojekt, ist aufgegangen. Dank der kongenialen Montage der Editorin Katja Dringenberg gehen die unterschiedlichen Ebenen des Films in einem inhaltlich wie ästhetisch stimmigen Gesamtkunstwerk scheinbar völlig nahtlos ineinander über. 

Realität und Fiktion meisterhaft verwoben: Demonstration der EntrechtetenBild: Fruitmarket Langfilm/IIPM/Armin Smailovic

Rau ist das auch gelungen, weil er sich selbst im Verlauf seiner Projekte zurücknimmt und seinen Protagonisten den Raum gibt, den sie brauchen. "Man muss wirklich zusammenarbeiten, man muss sich viel Zeit lassen, das sind jahrelange Prozesse, die nicht aufhören mit dem Ende des Drehs", so Rau. Und er ergänzt: "Man muss viel Vertrauen in andere Menschen haben, was als Künstler nicht einfach ist. Man schafft ein Experimentierfeld, und dann passiert, was passiert." Mit entwaffnender Ehrlichkeit werden in "Das Neue Evangelium" auch die realen Konflikte zwischen den Protagonisten untereinander gezeigt und mit der Jesus-Geschichte verwoben.

Für den Schweizer Theater- und Filmregisseur sind solche hybriden Projekte nichts Neues. Im Gegenteil: Sie sind sein Fachgebiet. Seit vielen Jahren lotet Rau die Schnittstellen zwischen Kunst und Politik, zwischen Ästhetik und Aktivismus aus. Oder wie Arne Birkenstock es ausdrückt: "Wenn man mit Milo arbeitet, macht man nie nur einen Film."

Milo RauBild: Barbara Gindl/APA/picturedesk.com/picture alliance

Soziale Botschaft der Jesusgeschichte

Mit "Das Neue Evangelium" hat Milo Rau den ersten europäischen Film mit einem schwarzen Jesus in der Hauptrolle gedreht, die erste Passionsgeschichte mit Geflüchteten und einem gemischten Cast aus Juden, Muslimen und Christen. Ihm ist aber noch weit mehr gelungen: In seinem Film schiebt er das Dickicht der religiösen, traditionellen und mystischen Elemente der Jesus-Geschichte beiseite und legt ihre Essenz frei: ihre radikale soziale Botschaft.

Raus Film ist nicht nur hochpolitisch, sondern auch radikal menschlich. "Das Neue Evangelium" ist ein Meisterwerk, das cineastisch und sozialpolitisch überzeugt und dabei auch noch emotional bewegt.

 

Für "Das Neue Evangelium" von Milo Rau können auf der Website des Films seit dem 17.12. digitale Tickets für Streamings erworben werden. An den Erlösen werden diverse Kinos beteiligt.

Hier geht es zu einer Gofundme-Kampagne, bei der man den vier Organisiationen und Initiativen, die im Film vorkommen, spenden kann. 

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