Samos: Flüchtlingscamp hinter Stacheldraht
22. September 2021Leere Verschläge und Zelte säumen den Hügel hinter Vathy, dem Hauptort der Kykladeninsel Samos. Zu Hochzeiten der Flüchtlingskrise in Griechenland 2018/19 hatten hier 8000 Menschen gelebt, mitten im Dreck, ungeschützt vor Hitze, Kälte, Insekten, Ratten und Schlangen.
Samos ist einer der Hotspots, von denen aus Menschen auf der Flucht einen menschenwürdigen und schnellen Zugang zu Asylverfahren bekommen - und dann weiterziehen sollten. So war der Plan im Jahr 2017. Die Realität sah anders aus: Hygienische Zustände, die krank machen, schlechte Versorgung, intransparente Verfahren: Die Lager auf den griechischen Inseln sind zum Symbol des Versagens der EU-Migrationspolitik geworden.
Forutan ist 27 Jahre alt und hat in Afghanistan als Fernsehjournalist gearbeitet. Er zeigt Uni-Abschlüsse und Presseausweise. Aufgrund seines Berufes droht ihm in seiner Heimat die Todesstrafe. Trotzdem hätten die griechischen Behörden seinen Asylantrag abgelehnt. Drei Mal. Die Begründung: Er habe nicht nachweisen können, tatsächlich als Journalist gearbeitet zu haben. Wie ihm geht es vielen.
"Ich will einfach ein normales Leben führen und meinen Beruf ausüben", sagt er leise, "ich bin hierhergekommen, weil ich dachte, dass es hier Menschenrechte gibt." Eine Frau neben ihm bricht in Tränen aus. Auch sie ist aus Afghanistan, auch ihr Asylantrag wurde abgelehnt. "Wir machen uns furchtbare Sorgen um unsere Familien zuhause. Warum bekommen wir, die hier sind, immer noch kein Asyl? Jetzt sollen wir in das neue Camp - aber wir wollen einfach nur weg von hier."
"Guantanamo" auf Samos
Niemand auf Samos will das neue Lager der EU, weder die Asylsuchenden, noch die Inselbewohner, die sich gegen ein - wie sie es nennen - "Guantanamo" auf ihrer Insel wehren. In der Nacht vor dem ersten Transfer in die neue Flüchtlingsunterkunft bricht ein großes Feuer aus. Wer es gelegt hat, ist unklar, doch in den Flammen lodert die Wut über eine Asylpolitik, die unfähig ist, den politischen Herausforderungen nachhaltige Lösungen entgegenzusetzen.
Etwa acht Kilometer von Vathy entfernt, mitten im Nichts, liegt es nun, das erste der neuen Camps. Eine Viertelmilliarde Euro hatte die EU-Kommission in Brüssel für dieses und vier weitere Lager auf den griechischen Inseln zur Verfügung gestellt. Doppelter Nato-Stacheldrahtzaun umringt das Gelände, dazwischen stehen in regelmäßigen Abständen Wachtürme.
Disput zwischen Brüssel und Athen
3000 Menschen sollen hier Platz finden. Am Eingang steht: "Closed Controlled Access Center of Samos". Der Name ist Ausdruck für den Disput zwischen Brüssel und Athen in streitbarem Englisch: Die EU hatte sich strikt gegen "geschlossene" Lager gewehrt. Man versuchte, sich auf "kontrollierter Ein- und Ausgang" zu einigen - doch Athen wollte auf den Begriff "geschlossen" nicht verzichten.
In der Tat dürfen Asylsuchende das Camp verlassen - in bestimmter Anzahl und zeitlich begrenzt. Wer hinein und hinaus will, muss die Tore mit einer Karte und per Fingerabdruck bedienen. Zur Eröffnung hisste Migrationsminister Notis Mitarakis die griechische Flagge und Beate Gminder, Leiterin der Taskforce für Migrationsmanagement der EU-Kommission, die europäische. Es herrschte Feierstimmung.
Grenzen und Ideale
"Griechenland kommt seinen Verpflichtungen nach und schützt die europäischen Grenzen und unsere gemeinsamen Ideale", so Mitarakis bei der Eröffnungszeremonie. "Hier sind die Voraussetzungen für eine würdevolle Aufnahme von Migranten gegeben, ohne Überbelegung - und ohne die lokale Bevölkerung unverhältnismäßig zu belasten", ergänzte Gminder.
Für die Bevölkerung der griechischen Hauptstadt Athen aber sieht das anders aus. Dort füllen sich die Straßen mit Asylsuchenden, die zuvor auf den Inseln waren. Dimitris Choulis, Anwalt auf Samos, hat mitangeschaut, wie der überfüllte "Dschungel" von Samos sich langsam leerte. Auch Menschen, die sich im Asylprozess befanden und die Insel nicht verlassen durften, machten sich auf den Weg: "Es gab im Juni dieses Gerücht, dass die Fähren jetzt auch sie mitnehmen", erinnert sich Choulis. Man hätte den Behörden aufgetragen wegzuschauen.
Wenn Asylsuchende verschwinden
Der Anwalt Choulis befürchtet dahinter eine Strategie der Regierung in der Hauptstadt: "Wenn das neue Camp öffnet, werden sie Aktionen in Athen durchführen und diejenigen Migranten hier verhaften, die illegal die Insel verlassen haben." Denn: Laut griechischem Gesetz verlieren die Menschen so den Anspruch auf ein Asylverfahren und können direkt in Abschiebehaft genommen werden.
Athen setzt schon lange auf illegale Strategien, um Asylsuchende jenseits der griechischen Grenzen zu halten. Sogenannte Pushbacks, bei denen Menschen nach dem Grenzübertritt wieder abgeschoben werden, ohne einen Asylantrag stellen zu können, sind bereits seit langem bekannt. Selbst während der Eröffnungszeremonie des neuen Camps kamen zwei Schlauchboote auf Samos an. Nur zwei Somalier wurden daraufhin registriert, alle anderen, darunter auch eine syrische Familie, zurück in die Türkei "gepusht".
Im Fokus: Gewalt
Mit illegalen Abschiebungen habe man sich selbst in Brüssel arrangiert, meint längst Choulis. Daher legt der Anwalt den Fokus seiner Arbeit nun auf kriminelle Handlungen in Tateinheit mit Pushbacks: "Wir konzentrieren uns auf Gewalt, denn niemand kann tolerieren, wenn Polizeibeamte Migranten Geld stehlen oder Menschen erniedrigen." Immer wieder berichten Flüchtende von derartigen Zwischenfällen. Die Beweislast sei erdrückend, sagt Choulis, doch die meisten Vergehen würden zwischen den langsam mahlenden Mühlrädern der griechischen Bürokratie einfach in Vergessenheit geraten.
Am Athener Viktoriaplatz drängen sich derweil immer mehr Flüchtende, die meisten von ihnen aus Afghanistan: "Ich habe in Kabul als Übersetzer gearbeitet. Wenn ich dorthin zurückgehe, droht mir die Todesstrafe. Trotzdem wurde mein Asylantrag zweimal abgelehnt", erzählt ein junger Mann, der namentlich nicht genannt werden will. In Athen schickten die Hilfsorganisationen ihn weg, weil er sich illegal im Land befindet. Er sagt, er schläft nachts in Parks und Hauseingängen und hofft auf eine Rettung nach Westeuropa.
Die Türkei: kein sicheres Drittland
In der Türkei hätte er unter prekären Bedingungen gearbeitet und sei von den Behörden schikaniert worden, erzählt der junge Mann weiter. Athen aber betrachtet den Nachbarstaat als sicheres Drittland und verwehrt Afghanen auch nach der Machtübernahme der Taliban aus diesem Grund das Recht auf Asyl.
Sotiris Serbos, Professor für internationale Politik und Experte für die Beziehungen zwischen Athen und Ankara, hält diese Haltung für fragwürdig: "Ich denke nicht, dass die Türkei für Migrierende ein sicheres Land ist. Aufgrund ihrer unklaren rechtlichen Lage und des wachsenden Unmuts gegenüber Flüchtlingen dort sollten wir um das Schicksal dieser Menschen sehr besorgt sein."
Mit Blick auf zukünftige Wahlen meint Serbos, dass der griechische Umgang mit dem Thema Migration vor allem parteipolitisch motiviert sei: "Jeder will die Flüchtlinge für den Wahlkampf instrumentalisieren und das ist besorgniserregend", so Serbos. "Ich denke, dass Griechenland alle Mittel nutzen wird, um eine Krise zu verhindern, die die Rolle der Regierungspartei untergraben könnte."