Das Phantom Bin Laden
10. September 2004Wenn man den Irak und Afghanistan mitzählt, dann vergeht schon seit geraumer Zeit kein Tag mehr, an dem nicht irgendwo auf der Welt ein Terroranschlag verübt wird. Die Weltkarte des Terrorismus ist größer geworden, die Ziele sind weiter über die Kontinente verstreut. Das Phänomen aber ist dasselbe: Politische Forderungen sollen mit Hilfe unbotmäßiger Gewalt gegenüber Unbeteiligten und Unschuldigen durchgesetzt werden. Regierungen sollen erpresst, ihre Bürger eingeschüchtert und terrorisiert werden.
Drei Jahre nach dem 11. September erscheint die Bilanz des Anti-Terrorkampfes ernüchternd und deprimierend zugleich: Unter der Führung der Vereinigten Staaten hat sich zwar eine internationale Allianz zum Kampf gegen den Terrorismus zusammengetan, aber von einem Sieg ist man immer noch weit entfernt. Vielleicht sogar weiter als vor drei Jahren. Da nämlich kannte man die Adresse des Feindes: Osama Bin Laden. Er und seine Führungsgruppe der "El Kaida" residierten im Afghanistan der Taliban. Auch wenn man ihrer nicht habhaft werden konnte, waren sie doch reale Figuren. Seit der Zerschlagung der Taliban-Herrschaft hingegen sind sie in den Untergrund gegangen und zu Phantomen geworden. Solche Phantome leben länger und scheinen effektiver zu sein als real und nachweisbar handelnde Personen. Immer noch gilt Osama Bin Laden in breiten Kreisen der islamischen Welt als Held.
Mythos El Kaida
Die wachsende Undurchsichtigkeit trägt auch zur Mystifizierung von El Kaida bei: Wo immer ein Terroranschlag verübt wird - schnell wird dieser Name ins Spiel gebracht und behauptet, Bin Laden habe seine Finger im Spiel. Das ist sicher nicht immer der Fall. Aber zutreffen dürfte, dass das Vorbild El Kaida wirkt. In Indonesien ebenso wie in der Türkei, in Marokko wie in Ossetien.
Es wäre dabei falsch, El Kaida als straff organisierte "Terror-AG" zu betrachten. Sie lebt vielmehr davon, dass es auf der Welt weiterhin mehr als genug Unfreiheit, Armut und Unterdrückung gibt. Und dass nicht in erster Linie die dagegen angehen, die doch sonst immer Begriffe wie "Freiheit", "Demokratie" und "Menschenrechte" im Munde führen. Solch ein Vorwurf der doppelten Moral fällt besonders in der islamisch geprägten Welt auf fruchtbaren Boden, weil hier das Gefühl der wirtschaftlichen und politischen Benachteiligung gegenüber dem Westen besonders stark ausgeprägt ist und diese Diskriminierung oftmals religiös gedeutet wird.
Wurzeln des Terrors bekämpfen
Der Westen - allen voran die USA - tut zu wenig, um diese Enttäuschten anzusprechen. Er baut vielmehr weiterhin darauf, dass er sich selbst durch erhöhte Wachsamkeit und verstärkte Einschränkung bürgerlicher Freiheiten schützen kann. Dabei erkennt der Westen nicht, dass den Radikalen dadurch vielleicht noch mehr Argumentationshilfe gegeben wird. Mit bloßer Gewalt wiederum wird Terrorismus erst recht nicht auszurotten sein.
So richtig schließlich auch die Feststellung ist, Terrorismus müsse an der Wurzel bekämpft werden und nicht nur in seinen Symptomen: Es kann nicht eine Behandlungsweise allein geben, sonst bleibt jede Bemühung sinn- und nutzlos.
Und Bemühungen gibt es auch: Natürlich sind eine ganze Reihe von Teilnehmern an der Koalition gegen den Terror keine Demokraten. Aber sie haben sich zumindest offiziell von ihrer früheren Unterstützung terroristischer Gruppen losgesagt. Dies ist ein erster Erfolg. Nun muss daran gearbeitet werden, dass diese Staaten - von Pakistan bis Libyen - auch einen Wandel zu Freiheit und Demokratie erfahren. Nur dann wächst die Chance, dass ihre Abkehr vom Terrorismus von Dauer ist.