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Transkript: 47. Das Recht auf Mobilität

9. Juni 2022

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Eine barrierefreie Umwelt ist für behinderte Menschen noch lange keine Selbstverständlichkeit.

Zum Podcast geht es hier. 

Jingle: DW. "Echt behindert!

Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat uns Regeln beschert, die sich in nationalen Gesetzen niederschlagen sollen. Zum Beispiel ist in Deutschland seit dem Jahr 2022 der öffentliche Verkehr "barrierefrei". Dass das nicht so ist und dass da noch sehr viel zu tun ist, das wissen wir. Und darüber ist hier auch schon oft gesprochen worden. Doch wie verhält sich das in anderen Ländern? Heute in "Echt behindert!", spreche ich mit einer Frau, die in Deutschland aufgewachsen ist und heute in London lebt. Dort ist sie Beraterin für Barrierefreiheit für große Verkehrsunternehmen. Und sie hat den Vergleich. Schönen guten Tag, Christiane Link. 

Christiane Link: Hallo aus London.  

Matthias Klaus: Frau Link, Sie arbeiten für Barrierefreiheit. Sie haben eine Firma, die Firma Ortegalink, die berät Luftfahrtunternehmen, berät Eisenbahnunternehmen und verschiedene andere auch. Was machen Sie da genau? 

Christiane Link: Ich war 20 Jahre lang Journalistin und bin im Rahmen dieser Tätigkeit sehr viel gereist. Ich bin Rollstuhlfahrerin und habe gemerkt, dass es da noch ein bisschen Verbesserungsbedarf gibt, was Airlines und Flughäfen angeht, hatte aber nicht die Idee, mich in dem Bereich selbstständig zu machen, sondern es war eher umgekehrt. Es gab eine Airline, die an mich herangetreten ist, nachdem ich ihnen über ihren Service Feedback gegeben habe. Ich war bei denen Vielflieger, und ich habe gesagt: "Ihr habt so einen tollen Service und ich weiß, ihr habt sehr hohe Standards, was eure Teams angeht und was eure Abläufe und Prozesse angeht, und ich bewundere das sehr. Ich fliege sehr gerne mit euch, aber ich habe das Gefühl, dass das durch die Unsicherheit im Umgang mit behinderten Passagieren manchmal so ein bisschen vergessen wird oder einfach die Unsicherheit vieles überwiegt. Und könntet ihr nicht mal was dagegen tun?" Ich hatte eigentlich gar nicht die Idee, dass ich Schulungen durchführe oder daraus ein Geschäft mache! Überhaupt nicht! Das war gar nicht meine Intention. 

Ich bin dann aber von dieser Airline angesprochen worden, ob ich nicht ihr Personal schulen könnte. Und so bin ich quasi erstmal als Nebenjob zur Schulung von Luftfahrt-Personal gekommen und habe dann vor ein paar Jahren entschieden, dass ich das hauptberuflich mache und mich darauf fokussiere. Und unterdessen mache ich also nicht nur Schulungen - das mache ich eigentlich gar nicht mehr so häufig im Moment - sondern wirklich Strategieberatung. Wie kann man behinderte Kundinnen und Kunden gewinnen? Wie kann man das Kundenerlebnis verbessern? Wie kann man Loyalität aufbauen? Was ist die Erwartungshaltung? Wie sieht ein barrierefreier Flughafen aus oder was kann man an Bahnhöfen verbessern? Und zwar nicht nur für Rollstuhlfahrer, sondern insgesamt. 

Ich weiß, dass sich die Anzahl der älteren Menschen bis 2040 erhöht haben wird. Wir haben auch immer mehr behinderte Menschen, die immer noch aktiv sind und aktiv bleiben, was gut ist. Und insgesamt nutzen viel, viel mehr Menschen Flughäfen, Bahnhöfe und Infrastruktur und das bis ins hohe Alter und auch wenn sie behindert sind. Und das ist eigentlich etwas Positives. Und ich glaube, es ist wichtig, dass Unternehmen verstehen, was sie selber tun können, wie sie ihr Personal schulen und was sie sonst anbieten können, um diese Kundengruppe quasi zu gewinnen. 

Also ich denke, die Kaufkraft behinderter Menschen und ihrer Familien wurde lange Zeit sehr stark unterschätzt. Sie wurden gar nicht als Kundengruppe angesehen, und das ändert sich gerade. Ich versuche Unternehmen zu helfen, diese Kundengruppe zu gewinnen und gleichzeitig ist mein Ziel natürlich, als selbst behinderter Mensch die Erfahrung behinderter Menschen insgesamt zu verbessern. Und das geht eben nur, wenn alle Organisationen ihren Service für diese Kundengruppe verbessern, wenn die Barrierefreiheit verbessert wird und wenn überhaupt mal verstanden wird, was die Erwartungen sind und wie man einen guten Service für behinderte Menschen entwickeln kann. Denn das ist dann nicht nur für diese Kundengruppe, sondern meine Erfahrung ist eben auch, dass ein Unternehmen, das behinderte Kunden gut betreut und gut bedient, dass dies dann auch für andere Kunden mit sehr viel Empathie, gutem Kundenservice, guten Prozessen und einfach einem Kundenbewusstsein einhergeht. Und davon profitieren behinderte Menschen, aber am Ende, de facto, dann auch jeder andere Kunde, den das Unternehmen hat. 

Matthias Klaus: Ich kannte Sie ja eher als Journalistin. Ich habe gerne den "Stufenlos" Blog auf Zeit Online gelesen und auch andere Artikel von Ihnen. Das Journalistengeschäft, ist das inzwischen bei Ihnen eingeschlafen? Machen Sie nur noch Beratung oder schreiben Sie auch noch? 

Christiane Link: Also, ich war 20 Jahre lang Journalistin und habe sehr viel aktuelle Berichterstattung gemacht. Ich war Volontärin bei dpa, war dann später Redakteurin, habe sehr viel im IT-Bereich gemacht und bin dann nach England gegangen, um für die BBC zu arbeiten. Ich habe fünf Jahre lang meine eigene Zeitung herausgegeben. Es war die einzige deutschsprachige Zeitung für Einwanderer im Vereinigten Königreich [UK], und seit ein paar Jahren mache ich eigentlich nur noch Beratung. Ich hatte so ein bisschen das Gefühl, ich habe im Journalismus eigentlich alles gemacht.

Ich hatte tolle Events, über die ich geschrieben habe, etwa von der Syrien-Konferenz in London, große internationale Politik, Berichterstattung aus England, dann natürlich Brexit. Ich habe zwischendurch für ein Jahr für ein Bahnunternehmen gearbeitet als der sogenannte "Head of Accessibility", also quasi die Abteilungsleitung für Barrierefreiheit und habe dann gemerkt, wie wichtig es ist und dass es gute Beratung in dem Bereich braucht. Die Unternehmen kaufen das ein, möchten es auch haben, und dann habe ich gedacht: 'Okay, ich habe sowieso schon nebenbei Beratung in meiner Firma laufen. Eigentlich müsste ich mich darauf konzentrieren, um wirklich etwas zu verändern. Und zwar nicht nur in der Luftfahrt, sondern eben auch im Verkehrs- und Bahnbereich.'

Matthias Klaus: Sie haben Erfahrungen mit Deutschland, und Sie haben Erfahrungen mit England und wahrscheinlich auch mit anderen Ländern als Beraterin. Wenn Sie es mal vergleichen: Sie sind 2006 nach London gekommen. Wie war das? Besser? Schlechter? Welchen Eindruck hatten Sie da spontan? Und haben sich die Eindrücke über die letzten 15 Jahre dann auch verfestigt? 

Christiane Link: Also ich hatte gar nicht vor, nach England auszuwandern. Das ist irgendwie so passiert. Ich wollte für ein paar Monate für die BBC arbeiten und hatte ein Angebot bekommen, das zu machen. Ich habe mich in Deutschland bei der dpa beurlauben lassen und habe gedacht, ich gehe dann später wieder zurück in meinen dpa-Job als Redakteurin und habe dann aber nach zwei Monaten - nachdem ich zwei Monate in London war - eigentlich sehr schnell gemerkt, dass sich meine Lebensqualität aufgrund der besseren Barrierefreiheit insgesamt massiv verbessert hatte und auch aufgrund eines ganz anderen Umgangs mit behinderten Menschen verbessert hatte, als der vor 15 Jahren noch in Deutschland üblich war. 

Also, ein einschneidendes Erlebnis war es als ich in die BBC-Kantine kam, und da waren andere sichtbar behinderte Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen. Das hatte ich vorher in Deutschland so gut wie nie gesehen. Ich war fast immer überall die einzige sichtbar behinderte Journalistin. Das war in England - und vor allem bei der BBC - plötzlich komplett anders. Also, da waren in anderen Redaktionen überall behinderte Menschen. Und zu dem Zeitpunkt, als ich bei der BBC war, habe ich eine Einladung bekommen. Die haben quasi alle journalistisch arbeitenden behinderten Menschen zu einer Diskussion eingeladen, zu einem bestimmten Thema, das da gerade aktuell war und wollten quasi Input für ein Programmkonzept haben. Das hatte ich vorher auch noch nie erlebt, das fand ich schon extrem beeindruckend. Und dann natürlich - wenn ich nicht gearbeitet habe - war es so, dass London zu dem Zeitpunkt schon relativ barrierefrei war, angefangen bei der Anzahl der barrierefreien Toiletten. In Deutschland war ich ständig dabei zu gucken, wo die nächste Toilette ist. Das hört sich profan an, aber das ist es überhaupt nicht, denn das bestimmte meinen Tagesablauf. Ich musste genau planen: 'Okay, ich habe jetzt eine Pressekonferenz, zu der ich muss und in dem Hotel, weiß ich, da ist keine Toilette, aber ich könnte dann einen  Kilometer die Straße runter zu dem Hotel fahren.' Also, ich war ständig damit beschäftigt, meinen Tag darum herum zu planen, die mangelnde Barrierefreiheit auszugleichen, während ich gleichzeitig aber auch noch für aktuelle Redaktionen gearbeitet habe. Also ich konnte nicht irgendwie zwei Stunden rumtrödeln und irgendwie versuchen, mein Toilettenproblem zu lösen, sondern das musste sozusagen alles schon relativ gut durchdacht sein. Und als ich dann in London war, fiel mir auf, was für eine unglaubliche Denkkapazität das von mir ständig abgefordert hat. Und das war plötzlich völlig weg. Ich wusste, ich kann in so gut wie jedes Hotel in London gehen. Die werden irgendwo eine barrierefreie Toilette haben, und es gab einen U-Bahn-Plan, wo die barrierefreien Toiletten eingezeichnet waren. Also, diese ganze Sucherei hatte ein Ende und die großen Pub-Ketten hatten alle barrierefreie Toiletten. Die Restaurant-Ketten hatten alle barrierefreie Toiletten. Also, das ganze Thema war plötzlich weg! Das hatte einen enormen Einfluss! Und ich lebte plötzlich in einem Umfeld, in einer Gesellschaft, die – damals 2006 war es noch die DDA, Disability Discrimination Act - mir Rechte gegeben hat. Also ich war ein Mensch mit Rechten, und ich durfte nicht diskriminiert werden. Das war in Deutschland so nicht der Fall. Das ist bis heute eigentlich nicht der Fall. Und das änderte sich dann auch noch 2010. Da wurde das Gesetz dann noch umfassender. Es heißt jetzt "Equality Act". Das hatte massiv Einfluss auf meine Lebensqualität, seit ich nach London gegangen bin. Das heißt nicht, dass hier alles perfekt ist und dass hier nie jemand diskriminiert wird. Aber es macht einfach was mit einem selber, wenn man weiß: Der Staat, die Gesellschaft usw. akzeptiert Diskriminierung nicht! Und Diskriminierung ist das, was in Deutschland ganz oft falsch verstanden wird. Es bedeutet nicht, dass sich da jemand hinstellt und sagt: "Ich möchte hier keine Rollstuhlfahrerin haben", sondern Diskriminierung bedeutet auch: Ich komme nicht dorthin und kann nicht das machen, was andere, nicht behinderte Menschen machen können. Das ist so wegen mangelnder Barrierefreiheit oder weil die Prozesse nicht in Ordnung sind oder weil irgendjemand Vorurteile hat, die er mal besser ablegen würde. Und das ist in Großbritannien definitiv anders und das war vor 15 Jahren schon anders. Und ich hatte so ein bisschen das Gefühl, ich bin in eine Zeitmaschine gestiegen, die mich sozusagen zehn Jahre vorangebracht hat. Ich hatte immer sehr stark die Einstellung, dass nicht die Tatsache, dass ich nicht laufen kann, das Problem ist, sondern die Tatsache, dass die Gesellschaft so wenig barrierefrei ist wie sie ist. Also nicht ich bin das Problem, sondern die gesellschaftlichen Umstände, die Strukturen usw. Und das ist exakt das, wie Großbritannien die Gesellschaftsstruktur um den "Equality Act" organisiert hat, das soziale Modell von Behinderung: Wir gucken uns an, was braucht die Person, und dann wird das geändert und nicht die Person wird geändert, was sowieso nicht funktionieren wird. Das hat einen enormen Einfluss darauf, wie behinderte Menschen sich selber sehen, wie die Gesellschaft mit einem umgeht. Und jetzt glaubt auch in Großbritannien nicht jeder an das soziale Modell von Behinderung und versteht das, aber ich finde Hunderte von anderen Menschen, die es verstehen. Und wenn ich Glück habe, am Ende - wenn alles eskaliert - auch noch einen Richter, der mir recht gibt und sagt: "Leute, so geht's nicht, ihr müsst euer Restaurant umbauen oder kauft euch halt mal eine Rampe für 100 Pfund oder schult mal eure Mitarbeiter." 

Matthias Klaus: Zehn Jahre Zeitmaschine. Nun sind es ja inzwischen 16 Jahre. Ist es denn in Deutschland annähernd so, wie es damals in England war oder gibt es da wirklich grundlegende Unterschiede? Was mir als Erstes einfallen würde, wäre: Ich wüsste gar nicht, wo ich klagen soll, wenn einer mich nicht in seine Kneipe reinlässt. 

Christiane Link: Also, Deutschland hat aufgeholt. Ich finde aber trotzdem, dass dieses Diskriminierungsthema weit schlechter behandelt wird als in Großbritannien. Und das hat Einfluss auf das Selbstverständnis behinderter Menschen und auch wie andere Menschen mit einem umgehen. 

Matthias Klaus: Haben Sie denn in England schon mal geklagt? 

Christiane Link: Ich habe bereits mehrfach Unternehmen auf der Basis angeschrieben, dass sie quasi gegen das Gesetz verstoßen haben, und habe gesagt, dass es dafür einen Begriff gibt. Der  heißt "Letter before Action", also "Brief vor Klage" oder "Brief vor Gericht", bevor man quasi vor Gericht geht. Und ich habe einen solchen Brief mehrfach erfolgreich geschickt, und es kam nie zur Klage, weil das Unternehmen sofort eingelenkt hat. Ich kann ein Beispiel sagen. Es gab eine Coffeeshop-Kette, die eine nagelneue Filiale eröffnet hat, an einem großen Bahnhof, wo ich sehr, sehr oft bin, und kein einziger Tisch in diesem Café war so, dass ich als Rollstuhlfahrerin dort sitzen konnte. Das waren alles Hochtische. Und jeder, der laufen kann, konnte dort seinen Kaffee trinken und sich hinsetzen. Nur ich nicht. Ich hätte unterm Tisch gesessen, was nicht akzeptabel ist. Das ist exakt die Diskriminierung, die in Deutschland oft nicht als Diskriminierung angesehen wird. Und ich hatte die Coffeeshop-Kette aufgefordert, das zu ändern und mindestens einen Tisch zur Verfügung zu stellen, an dem ich einen Kaffee trinken kann. Und die haben es innerhalb von 48 Stunden geändert. Und ich habe es bei einer zweiten Kette gemacht - komischerweise am gleichen Bahnhof oder in der Nähe des gleichen Bahnhofs - die ähnlich schnell reagiert haben. Also die machen das, weil sie wissen, ich würde vor Gericht gewinnen und das würde ich auch. Also bei solch eindeutigen Fällen, kann eine große Kette nicht argumentieren: "Wir haben kein Geld für einen Tisch, der vielleicht 100 Pfund kostet, um das Café barrierefrei zu machen, weil wir vorher die falschen Tische gekauft haben." Das ist einfach de facto ein Verstoß gegen das Gesetz, und sie müssen es ändern! Das Hauptproblem ist ein bisschen, dass diese Fälle individuell von einzelnen behinderten Menschen vor Gericht gebracht werden müssen. Das ist meines Erachtens die größte Barriere des Gesetzes, auch wenn es noch so gut ist. Das hat etwas mit dem finanziellen Risiko zu tun. Es kann natürlich trotzdem sein, dass ich die Klage verliere, und es ist natürlich mit einem enormen mentalen Aufwand verbunden. Und nicht jeder kann das. Also nicht jeder ist in der Lage, ohne Anwalt - die in Großbritannien wiederum sehr teuer sind - einen rechtsfesten Brief an die Rechtsabteilung eines Großkonzerns zu schreiben und zu sagen: Bringt mal eure Tische an dem und dem Bahnhof in Ordnung. Also, das muss ja auch eine gewisse Standhaftigkeit vor Gericht haben. Das sind meines Erachtens die höchsten Barrieren. Es gibt kaum Rechtsbeihilfe in Großbritannien. Das ist schon ein Problem. Das Gesetz ist nicht ideal, diesen Eindruck will ich auf gar keinen Fall erwecken. Aber es hat trotzdem einen enormen Einfluss darauf, wie das Leben in Großbritannien für behinderte Menschen organisiert ist. 

Matthias Klaus: Reden wir noch mal über Ihr Beratungsfeld. Sie beraten ja auch die Bahn oder waren da sogar mal "Head of Accessibility" oder was auch immer. Also was waren Sie genau?

Christiane Link: "Head of Accessibility”, ja, das stimmt.

Matthias Klaus: Sie waren "Head of Accessibility" bei einem großen englischen Bahnunternehmen. Und Sie sehen ja auch, was in Deutschland läuft. Die Debatten, die hier geführt werden - gerade für Rollstuhlfahrer - dass man sich zum Beispiel vorher anmelden muss und dass es aber immer noch sein kann, dass die Bahn sagt: "Nein, wir nehmen Sie nicht mit, wir haben da niemanden am Bahnhof. Tut uns leid, das ist morgens um fünf." Oder so etwas wie: "Auf diesem kleinen Bahnhof ist sowieso niemand. Da kann auch niemand hinkommen. Bitte sehen Sie zu, wie Sie woanders klarkommen." Oder es gibt auf einmal das Klo nicht im Zug, weil der Wagen nicht da ist. Gibt es solche Sachen in England auch oder werden da gewisse grundsätzliche Sachen so geregelt, dass das gar nicht mehr vorkommen kann? 

Christiane Link: Also, die Regulierung in Großbritannien ist, was diese Dinge angeht, viel strikter. Ich kann manchmal überhaupt nicht glauben, wenn ich auf Twitter lese, dass die Deutsche Bahn zum Beispiel sagen kann: "Wir haben um fünf Uhr oder am Sonntag - es muss gar nicht um fünf Uhr sein – am Sonntag können wir an dem und dem Bahnhof keine Assistenz leisten." Das geht in Großbritannien nicht. Niemand, der eine Bahnlizenz in Großbritannien hat, um Passagiere zu transportieren, kann einfach sagen: "Wir haben da keine Assistenz." Die sind verpflichtet, die Assistenz zu organisieren. Und wenn es ein Personalproblem gibt oder wenn zum Beispiel der Bahnhof nicht barrierefrei ist und man aus dem Grund nicht von dem Bahnhof abfahren kann, müssen sie den Transport zum nächstgelegenen barrierefreien Bahnhof organisieren. Kostenlos! 

Matthias Klaus: Das muss man nicht einklagen, sondern das passiert? 

Christiane Link: Das passiert. Das hängt an der Bahn-Betriebserlaubnis des Unternehmens. Und die wird strikt reguliert vom - in Deutschland wäre das wahrscheinlich das Eisenbahnbundesamt – also, vom britischen Regulierer für Bahnunternehmen. Die verhandeln mit den Bahnunternehmen - das habe ich selber gemacht, da war ich selber involviert, auf der anderen Seite quasi für das Bahnunternehmen - die verhandeln mit den Bahnunternehmen, wie ihre Prozesse aussehen, um das zu gewährleisten. Und da gibt es einen gewissen Standard, ein gewisses Mindestmaß, das erfüllt werden muss. Sonst erfüllt man seine Lizenz nicht. Und theoretisch kann die -  also, wenn es jetzt völlig eskaliert - entzogen werden. Aber normalerweise gibt es dann erst mal ein heftiges Bußgeld oder zumindest klopft dann der Regulierer an die Tür und sagt: "Können wir mal reden? Was ist denn bei euch los?" Also, da gibt es eine Regulierung, die stattfindet. 

Kein Bahnunternehmen in Großbritannien käme auf die Idee zu sagen: "Du kannst sonntags nicht nach Sheffield fahren, weil wir da kein Personal haben." Also, das Argument gibt es gar nicht, es käme niemand auf die Idee, so zu argumentieren. Perfekt ist es hier auch überhaupt nicht, gar keine Frage. Da kommen dann menschliche Fehler hinzu, da steht dann der Mitarbeiter am falschen Bahnhof. Solche Sachen passieren halt schon. Aber dass ein Bahnunternehmen von vornherein sagt: Wir leisten die Assistenz nicht, erstens wäre es ein Bruch der Bahnlizenz und zweitens auch ein Bruch des "Equality Act". Also der Passagier könnte sofort auf Schadenersatz klagen. 

Matthias Klaus: So wie man in Deutschland nicht ohne Führerschein Auto fahren darf. 

Christiane Link: Korrekt, ganz genau. Das ist so, das ist wirklich vergleichbar! Und es ist so  wie es auch andere Regulierungen in Deutschland gibt, Umweltschutz oder was auch immer. Ich muss mein Auto zum TÜV bringen. Es gibt bestimmte Regeln. Wenn man irgendwie ein Geschäft betreibt, dann unterliegt es bestimmten Regeln. Und in Großbritannien gehören eben Regeln, wie ich mit behinderten Kunden umzugehen habe, dazu. Sonst gibt es keine Betriebserlaubnis. Und diese Kultur braucht Deutschland ganz, ganz dringend. Das Problem in Deutschland ist, dass behinderte Menschen oft als Fürsorge-Objekt angesehen werden: "Muss der wirklich am Sonntag fahren? Reicht das nicht, wenn er am Montag fährt?", anstatt als Bürger die Rechte zu besitzen und auch ein Recht zu haben, mit der Bahn zu fahren. Das erste, was ich Unternehmen, Mitarbeiterinnen und allen Menschen in Schulungen sage, ist: Behinderte Menschen haben ein Recht zu reisen, ein Recht zur Arbeit zu pendeln. Es betrifft ja nicht nur den Fernverkehr, es geht ja auch um Nahverkehr. Wie wollen wir denn die Anzahl der arbeitenden, behinderten Menschen erhöhen, wenn das Pendeln nicht mehr möglich ist, wenn nicht jeder "Work from Home" machen kann? Also, ja, das ändert sich gerade ein bisschen. Aber es wird immer auch Berufe geben, wo man pendeln muss. Und ich finde auch behinderte Menschen haben ein Recht zur Arbeit zu kommen. Also, da geht es wirklich auch um Zugang zu bestimmten Gesellschaftsbereichen. Es geht darum, Krankenhäuser erreichen zu können. Es geht um Gesundheitsversorgung. Es geht darum, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es geht darum, sich mit Freunden zu treffen, die vielleicht am anderen Ende der Stadt wohnen. Also, Verkehr und der Zugang zu öffentlichem Verkehr, Nah- und Fernverkehr und auch zum Fliegen hat ganz, ganz viel damit zu tun, ob wir behinderten Menschen in bestimmten Lebensbereichen den Zugang ermöglichen oder nicht. Denn wenn diese Systeme nicht barrierefrei sind, wenn niemand erwartet, dass auch behinderte und ältere Menschen diese nutzen, schließen wir sie aktiv von der Gesellschaft aus. Und dieses Bewusstsein ist in Deutschland nicht da, dass das ein aktiver Akt ist und nicht zu sagen: "Ah, das ist ein Versehen." Das ist ganz oft gar kein Versehen. Das hat sehr viel damit zu tun, wie Prozesse, wie Rechte, wie die Kultur von Unternehmen organisiert sind. 

Matthias Klaus: Haben Sie eine Meinung darüber, worin der Unterschied bestehen könnte, wenn Sie jetzt beide Länder kennen? Warum haben die Menschen in Großbritannien das schon und die Deutschen einfach noch nicht, was dem deutschen Charakter widerspricht und der gleichberechtigten Teilnahme von behinderten Menschen? 

Christiane Link: Also ich höre sehr häufig den Satz: "Naja, du musst halt bedenken, Deutschland befindet sich auf einem sehr langen Weg und auch wo sie herkamen." Und ich finde einfach, das darf kein Argument sein. Also, nur weil Deutschland die Geschichte hat, die es hat, darf das nicht als Argument dafür dienen zu sagen: "Aber jetzt ist ja alles schon viel besser." Also wer so argumentiert, das finde ich ganz, ganz, ganz furchtbar. Aber ich fürchte, es könnte damit zu tun haben. Dann glaube ich, dass es sehr stark auch mit dieser Aktion-Sorgenkind-Mentalität zu tun hat: Wir kümmern uns um behinderte Menschen, aber wir geben ihnen keine Rechte. Ich glaube dieser ganze Rechtsansatz, dass behinderte Menschen ein Recht auf Teilhabe haben, ist notwendig, um zu verstehen, was getan werden muss, um die Lebenssituation behinderter Menschen zu verbessern. Wenn wir immer nur sagen: 'Ja, es geht um Charity und wir sammeln mal und wir kaufen uns ein Los', das wird niemals dazu führen, dass behinderte Menschen gleiche Rechte haben. Aber es führt zu einem guten Gefühl für die nichtbehinderte Bevölkerung und dass sie etwas getan haben, indem sie ein Los gekauft haben. Das wird aber niemals zu Rechten von behinderten Menschen führen, und das ist - glaube ich - der große, große Unterschied, wie die Wahrnehmung auch behinderter Menschen in der Gesellschaft ist. Also dieses Objekt der Fürsorge ist halt in Großbritannien nicht so stark ausgeprägt wie in Deutschland. Das hat auch Nachteile, aber es hat definitiv den Vorteil, dass es darum geht, allen Menschen die gleichen Rechte zuzugestehen, egal ob sie behindert sind oder nicht. 

Matthias Klaus: Noch ein kleines plastisches Beispiel: Ich war letzte Woche in Fulda. Fulda ist ja so eine bischöfliche Stadt. Sehr viele Schlösser, Kirchen, sehr viele Kneipen mit Klos im Keller, sehr viele Treppen überall. England hat ja auch viele historische Gebäude. Wie geht man denn dort mit solchen Sachen um? Auch Sachen, wo es in Deutschland sofort heißen würde: "Wir können das gar nicht ändern wegen dem Denkmalschutz." Wie regelt man das mit historischen Gebäuden oder mit alten Gebäuden in Großbritannien und der Barrierefreiheit, der Zugänglichkeit? Lässt sich das immer regeln oder gibt es da auch Sachen, die gehen einfach nicht? 

Christiane Link: Also, im "Equality Act" heißt es, dass die Dinge "reasonable" sein müssen, also angemessen. Aber, ich würde fast sagen, Großbritannien ist das beste Land, das ich kenne, das mit unter Denkmalschutz stehenden Gebäuden und Barrierefreiheit am vorbildlichsten umgeht. Denn es geht darum, Zugang zu schaffen. Und gleichzeitig den Wert des Gebäudes zu erhalten. Aber ich habe einen sehr schlauen Satz von einem Denkmalschützer vor ein paar Jahren gehört. Der hat gesagt: "Der beste Schutz eines Denkmals ist dessen Nutzung." Das heißt, je mehr Menschen in ein denkmalgeschütztes Gebäude kommen und das wertschätzen, weil sie dort hingehen können desto höher ist das Interesse daran, dieses Gebäude zu schützen, weil es so schön ist und weil man daran teilhaben kann, also, in gewisser Weise, wenn der Denkmalschutz sein Selbstverständnis ändern würde. Es geht nicht darum, nur Gebäude zu schützen, sondern es geht darum, ein Gebäude zu schützen, damit die Menschen von diesem Gebäude profitieren, es schön finden können und es wertschätzen können. Dann bedeutet es auch bei dem Anteil an behinderten und älteren Menschen, dass das auch für sie zugänglich gemacht wird. Das wird nicht immer überall funktionieren und ein Kellergewölbe bleibt ein Kellergewölbe. Darum geht es nicht. Aber auch das ist eine sehr deutsche Tendenz. Es wird immer auf die Extreme geguckt, und nicht darauf, was man machen kann. 

Also, ich war in Downing Street Number 10, ein wirklich uraltes und definitiv hoch denkmalgeschütztes Gebäude. Dort gibt es intern einen Treppenlift und einen Fahrstuhl. Man kann auch denkmalgeschützte Gebäude toll barrierefrei machen. St. Paul's Cathedral ist ein anderes Beispiel. Die haben einen tollen Lift, der ist super in der Kirche installiert, innendrin in der Kathedrale. Das sind alles Topbeispiele. Westminster Abbey hat einen Fahrstuhl, wieder super denkmalgeschützt, ganz toll architektonisch gemacht. Da wird viel mit den gleichen Steinen gearbeitet, die verwandt wurden oder es wurde halt versucht, eine Anpassung zu erreichen, damit man den Unterschied nicht sieht. Und dann werden moderne Elemente in ein denkmalgeschütztes Gebäude integriert, um es zugänglich zu machen, was wiederum eine Maßnahme des Denkmalschutzes ist, meiner Meinung nach. 

Matthias Klaus: Das sagt Christiane Link. Sie wohnt in Großbritannien, sie stammt aus Deutschland. Sie kann beide Länder sehr gut vergleichen. Heute haben wir gesprochen in "Echt behindert!" über Barrierefreiheit hier und dort, über Barrierefreiheit im Verkehr und in öffentlichen Gebäuden und wie sich Barrierefreiheit auch eventuell mal einklagen lässt. 

Frau Link, ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie Zeit für uns hatten und ich nehme mal an, Sie werden in London wohnen bleiben, so wie sich das anhört. 

Christiane Link: Sehr gerne hat viel Spaß gemacht. Und ob ich in London bleibe: Ja, erst mal, ja. 

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias. Klaus. 

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Dieses Transkript wurde zum Zwecke der Barrierefreiheit unter Nutzung einer Spracherkennungs-Software erstellt und danach auf offensichtliche Fehler hin korrigiert. Es erfüllt nicht unsere Ansprüche an ein vollständig redigiertes Interview. Wir danken für das Verständnis.