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PolitikEuropa

Das Schweizer Kreuz mit der Pandemie

Andreas Noll
14. November 2021

Kritik an Corona-Maßnahmen gibt es in vielen Ländern Europas. In der Schweiz steht die Regierung aber besonders unter Druck. Ende November wird das Volk über die Pandemie-Politik abstimmen - Ausgang offen.

Schweiz Zürich | Plakat des Bundesamt fuer Gesundheit BAG zur Nationalen Impfwoche
Werbung für die nationale Impfwoche bis zum 14.11. am Zürcher Bahnhof OerlikonBild: MICHAEL BUHOLZER/Keystone/picture alliance

Die Verantwortlichen haben es mit kostenlosem Raclette probiert, mit süßem Gebäck und Live-Konzerten, doch einen großen Sprung hat die aktuell bei knapp 65 Prozent liegende Impfquote in der Schweiz durch die "nationale Impfwoche" nicht gemacht.

Das belegen die Zahlen aus der größten Stadt des Landes sehr deutlich. Im Schnitt lediglich rund 200 Menschen täglich holten sich im eigens aufgebauten "Impfdorf" im Zürcher Hauptbahnhof in dieser Woche ihre Erstimpfung gegen COVID-19. Im Sommer meldete der Kanton noch 25.000 Erstimpfungen am Tag. Und doch will der Schweizer Politikprofessor Marc Bühlmann von der Universität Bern nicht von einem Misserfolg der 96 Millionen Franken teuren Kampagne sprechen: "Wenn Erfolg bedeutet, dass man über das Thema Impfung redet, dann ist der Erfolg der Impfwoche da."

Überschaubares Interesse: "Impfdorf" am Hauptbahnhof ZürichBild: MICHAEL BUHOLZER/Keystone/picture alliance

Wie in den EU-Staaten war auch in der Schweiz das Thema Corona nie aus der Tagespolitik verschwunden, doch in diesen Tagen dominiert Corona wieder die politischen Debatten. Seit Mitte Oktober steigen die Fallzahlen im Land, die Kurve der Neuinfektionen zeigt aktuell steil nach oben - die Sieben-Tage-Inzidenz hat in dieser Woche die Marke von 200 durchbrochen.

Steht der Corona-Pass vor dem Aus?

Ausgerechnet zu Beginn einer weiteren Corona-Welle könnte die Politik aber auch noch das zentrale Instrument zur Pandemie-Bekämpfung verlieren: das COVID-Zertifikat. Es ist die Grundvoraussetzung für Reisen und die Teilnahme am öffentlichen Leben. Am 28. November stimmen die Schweizer zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate über das COVID-19-Gesetz ab. Es regelt nicht nur finanzielle Hilfen für die Kultur und die Gastronomie, sondern ist auch die gesetzliche Grundlage für die Corona-Maßnahmen. Sollte das Gesetz gekippt werden, würde wohl das COVID-Zertifikat aufgehoben. Und ohne Corona-Gesetz wären die 3G-Regeln in Gastronomie und der Veranstaltungsbrache vom Staat nicht mehr durchzusetzen.

Aktuelle Umfragen lassen zwar vermuten, dass die Wahlbevölkerung das Gesetz auch bei dieser Abstimmung nicht kippen wird, doch die Gegner machen derzeit erfolgreich Stimmung gegen die Pandemie-Maßnahmen. Fast 190.000 Unterschriften für das Referendum hat der erst in der Pandemie gegründete Verein "Freunde der Verfassung" immerhin gesammelt. "Das Referendum ist ein Anlass, um sein Misstrauen gegenüber der politischen Elite zu zeigen", analysiert Politikwissenschaftler Bühlmann, der als Direktor von "Année Politique Suisse" der politischen Stimmung im Land den Puls fühlt. "Dieses Misstrauen lässt sich organisieren. Und dafür gibt es eine Partei, die das seit den 1990er Jahren gut macht: Das ist die SVP."

Macht gegen die Corona-Politik der eigenen Regierung mobil: Finanzminister Ueli Maurer von der SVPBild: ALESSANDRO DELLA VALLE/Keystone/picture alliance

Reiseschwierigkeiten als mögliche Konsequenz

Die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) ist zwar mit Finanzminister Ueli Maurer in der Regierung vertreten, lehnt das Zertifikat aber trotzdem ab. Damit die Schweizer auch ohne COVID-Ausweis weiter ins Ausland reisen können, sollten bilaterale Verträge mit den EU-Partnern ausgehandelt werden, schlug eine SVP-Politikerin in dieser Woche im Fernsehen vor. Ein Prozess, der Monate dauern dürfte. Bis dahin könnte die Bewegungsfreiheit der Schweizer in Europa empfindlich eingeschränkt werden.

Doch um praktische Details geht es in der aktuellen Debatte selten. Obwohl die Maßnahmen im Vergleich zu den Nachbarstaaten Frankreich und Österreich deutlich weniger einschränkend waren, beklagen die Gegner des COVID-Gesetzes unverhältnismäßige Eingriffe in ihre Freiheit.

Protest-Aktion der "Freiheitstrychler" gegen die Corona-Maßnahmen in BaselBild: KARL-HEINZ HUG/Keystone/picture alliance

Stadt-Land-Gefälle statt Rösti-Graben

Doch nicht überall im Land stimmen die Menschen in die Kritik an der "Corona-Diktatur" ein. "Es gibt einen Stadt-Land-Graben. Die urbane Bevölkerung ist sensibler und vertraut der Regierung mehr als die Bevölkerung in den ländlichen Kantonen - also die eher deutschsprachigen Kantone. Da ist das Misstrauen gegen den Staat traditionell höher", analysiert Bühlmann.

Besonders laut auf sich aufmerksam machen in den so genannten Urschweizer Kantonen die "Freiheitstrychler", die mit traditionellen Schweizer Kuhglocken gegen die Corona-Politik anbimmeln. Auch SVP-Finanzminister Maurer ließ sich bei einem Treffen mit Trychlern fotografieren und kritisierte "all die Maßnahmen, die in Bern beschlossen" würden.

Mehr als 11.000 Corona-Tote in der Schweiz: Gedenkaktion auf der Rathausbrücke in Zürich vor einem JahrBild: Gaetan Bally/Keystone/picture alliance

Historisches Misstrauen gegen die Impfung

Während sich die Kampagnen im Laufe der Zeit geändert haben und heute wesentlich auf das Netz setzen, haben sie die Strukturen in der Bevölkerung überdauert. Schon bei der Volksabstimmung 2013 über das Epidemie-Gesetz kam der Widerstand aus den ländlichen Regionen. Und sogar bei der Abstimmung über eine Tuberkulose-Impfung im 19. Jahrhundert, so Bühlmann, waren vor allem die kleinen Innerschweizer Kantone kritisch. "Da scheint ein fast schon historisches Misstrauen gegen Impfungen vorhanden zu sein."

Alle diese Widersprüche mögen irritierend wirken, aber der Politikwissenschaftler sieht darin auch einen Beleg für die Stärke der direkten Demokratie. Der Streit verlaufe in der Schweiz in bekannten Bahnen. "Ich würde nicht von einer Spaltung der Gesellschaft sprechen, auch wenn die Medien dieses Bild lieben. Die Bereitschaft für den Dialog ist nach wie vor in der Schweiz sehr hoch. Man hat in der direkten Demokratie gelernt, dass man durchaus anderer Meinung sein darf, aber dass der ab und zu auch heftige Austausch von Argumenten langfristig doch funktioniert."

Plan B gibt es nicht

Wenn das Volk einmal im Referendum gesprochen hat, beruhigt sich die Situation auch häufig sehr schnell in der Schweiz. Marc Bühlmann verweist auf die Einführung der "Gurtentragpflicht" in den 1970er Jahren. Damals hatte ein Komitee gegen die Freiheitsbeschränkung geklagt, es gab ein Referendum, das die Anschnallpflicht bestätigte - und von dem Komitee hat man nie wieder etwas gehört.

In zwei Wochen werden die Schweizer ein weiteres Mal über die Corona-Politik entscheiden. Wenn die Regierung verliert, könnte sie zwar das Gesetz wohl noch bis zum Frühjahr in Kraft lassen - es gelten Übergangsfristen - doch die politische Dynamik dürfte das schwer machen. Welche Lösung der Bundesrat dann finden könnte, ist aktuell offen. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass Bern eine kreative Lösung auf das Machtwort des Volkes erarbeiten müsste. Bis dahin gilt die Ansage der Regierung: Einen Plan B gibt es nicht.

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