Die DDR-Vergangenheit in Schnipseln
30. August 201340 Jahre lang hat das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR, kurz Stasi, seine Bürger bespitzelt, schikaniert und das alles in Abertausenden Akten festgehalten - Verhörprotokolle, abgefangene Post, Dokumente über Spionage und Geschäfte mit dem Westen. Um zu verhindern, dass ihre Arbeit ans Licht kommt, versuchten die Mitarbeiter in den Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 möglichst alle Spuren zu beseitigen.
Was die Reißwölfe nicht schafften, wurde von Hand zerrissen. Doch überall im Land setzten engagierte Bürger dem ein Ende. 180 Kilometer unversehrter Akten und 15.000 Säcke mit geschätzt 600 Millionen Schnipseln blieben übrig. Fünf Jahre nach der Wende wurde der erste braune Papiersack mit zerrissenen Stasi-Unterlagen geöffnet, um die Fetzen wieder zusammenzusetzen. Denn ihr Inhalt ist für die Aufarbeitung des DDR-Regimes von ungeheurem Wert.
Puzzeln ohne Vorlage
40 Mitarbeiter begannen mit der Arbeit am Puzzle. Wie damals setzen die Angestellten auch heute noch einen großen Teil der Akten per Hand zusammen. "Das ist ein Sack mit zerrissenen Unterlagen vom MfS, manchmal kleiner, manchmal größer. Ich nehme mir einen Stapel, wo ich sehe, wo Ähnlichkeiten sind, und dann versuche ich sie zusammen zu puzzeln. Manchmal hat man Glück und die Akten sind nur einmal durchgerissen", berichtet Ines Splettstoesser.
Sie und drei Kolleginnen sitzen im dritten Stock des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg an riesigen Schreibtischen, vor sich Schnipsel in allen Farben, Formen und Größen. Rund herum stehen Archiv-Kartons, in die wird sortiert, dann von Hand zusammengeklebt, Seite für Seite. Ein unglaubliches Geduldspiel, denn es gibt keine Vorlage. Die Mitarbeiter wissen nicht, wie die Seite später aussehen soll. Sie wissen nicht mal, ob überhaupt alle Teile im gleichen Sack sind.
"Je nachdem wie so ein Sack ausgesehen hat, kam es dann schon mal vor, dass ein Mitarbeiter ein oder zwei Jahre vor so einem Sack gesessen hat und nicht alles zusammen bekommen hat", sagt Joachim Häußler, einer der Projektleiter der Stasiunterlagen-Behörde. Inzwischen sind es nur noch zwölf Mitarbeiter, die von Hand die Schnipsel zusammensetzen.
Computer soll bei der Arbeit helfen
Seit 18 Jahren wird schon gepuzzelt. Und es würde weitere Jahrzehnte dauern, auch nur das Wichtigste zu rekonstruieren. Moderne Technik soll deshalb helfen, die Schnipsel zusammenzusetzen. 2007 beauftragte die Bundesregierung das Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik - kurz IPK - mit der Entwicklung eines Computerprogramms, das die Schnipsel vollautomatisch und schnell zusammensetzt. Seit Anfang des Jahres arbeitet der "ePuzzler".
Auf der Glasscheibe des Scanners - der fast so groß ist wie ein Küchentisch - im Vorführraum des Instituts liegen zwischen zwei Schutzfolien ausgebreitet Dutzende Fetzen, alle nicht viel größer als ein Zwei-Eurostück. Ein Spezialscanner tastet sie von beiden Seiten gleichzeitig ab. Sekunden später sind gegenüber auf dem riesigen Bildschirm an der Wand alle Schnipsel zu sehen. Sie sind jetzt digitalisiert und die hoch spezialisierte Software kann "puzzeln".
Projektleiter Bertram Nickolay erklärt, wie das geht: "Von jedem Schnipsel berechnen wir eine Vielzahl von den Merkmalen, und zwar Merkmale, die den Schnipsel an sich charakterisieren." Die Maschine kann demnach Farben, die Papiersorte und die Form unterscheiden. Sie analysiert auch, ob das Blatt per Hand oder per Schreibmaschine beschriftet wurde. "Das heißt, ein Computerprogramm sucht sich die Schnipsel zusammen, die in möglichst vielen Merkmalen gleich sind", sagt Nickolay.
Robert Zimmermann, Mathematiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim IPK, zeigt, welche Befehle er dem Rechner geben kann. Kurz darauf bewegen sich die Schnipsel auf dem Flachbildschirm an der Wand wie von Geisterhand und die Seite ist vollstänidig.
Härtetest mit 400 Säcken
Der "ePuzzler" ist fertig entwickelt und setzt schon Seiten für das Archiv zusammen. Bevor das Programm tatsächlich an mehreren Maschinen eingesetzt wird, folgt noch ein Belastungstest: 400 Säcke mit kleinen Schnipseln sollen mithilfe der Software wieder zu Akten werden. Für den späteren Großbetrieb müssen die Spezialisten vom Fraunhofer-Institut die Scanner zudem noch aufrüsten und sich etwas einfallen lassen, wie man automatisch die Schnipsel reinigen, glätten und auf den Scanner legen kann. Denn dafür ist bisher noch zu viel Personal nötig.
Doch ohne Handarbeit wird es trotz "ePuzzler" auch in Zukunft nicht gehen. Denn jemand muss entscheiden, was rekonstruiert wird, helfen, wenn der Puzzler nicht richtig arbeitet und die elektronisch gepuzzelten Seiten zu Akten zusammenstellen.
Die Puzzle-Software ist auch für andere Bereiche interessant: "An uns wurden Anfragen herangetragen, Gemälde oder auch von der Finanzfahndung geschredderte Unterlagen wieder zusammenzusetzen", sagt Projektleiter Nickolay.