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Gesellschaft

Ich traf meinen Peiniger, den Ex-Neonazi

Alexandra Pascalidou ie
6. Februar 2018

Seit Jahren erhält die griechisch-schwedische Journalistin Alexandra Pascalidou Todesdrohungen von Neonazis. Einer ihrer Peiniger stieg aus der Szene aus und entschuldigte sich. Und Pascalidou traf ihn auf einen Kaffee.

Alexandra Pascalidou schwedische Kolumnistin
Bild: picture-alliance/dpa/E. Tedesjö

Es ist November, als Martin Karlsson mir eine E-Mail schickt. Während seiner 13 Jahre als Neonazi in der Organisation "Nordische Widerstandsbewegung" hasste er mich und bedrohte mich wiederholt. In seiner E-Mail entschuldigt er sich dafür:

Von: Martin Karlsson

Betreff: Möchte mich entschuldigen

Hallo Alexandra,

Ich schreibe Ihnen, weil ich um Vergebung bitten möchte. Vergebung für all den Hass, den ich all die Jahre gegen Sie und viele andere richtete. Ich war früher Mitglied der Nordischen Widerstandsbewegung. Endgültig davon lösen konnte ich mich Anfang 2016.

Ich tat es, weil ich die Werte der Nordischen Widerstandsbewegung nicht mehr teilen konnte. Heute bin ich unglaublich froh, von diesem Hass losgekommen zu sein. Gleichzeitig fühle ich mich schuldig für alles, was über die Jahre an Antisemitischem gesagt und getan wurde.

Viele Grüße
Martin

Rendez-vous mit einem Peiniger

Ich rufe Martin sofort an. Denn ich glaube, dass Brücken in diesen polarisierten Zeiten wichtig sind. Dass diejenigen, die sich auf einen Weg zurück zu einer gemäßigteren Einstellung begeben haben, Unterstützung und Ermutigung brauchen.

Wie sich herausstellt, lebt Martin in Varnamo, ungefähr vier Auto-Stunden von Stockholm entfernt. Ich schlage vor, uns auf einen Kaffee zu treffen. Ein Freund von mir, der weiß, dass ich jahrzehntelang ohne Schutz mit den rassistischen Drohungen lebte, warnt mich: "Du bist so leichtgläubig. Das könnte eine Falle sein. So verhält man sich doch nicht plötzlich gegenüber jemandem, den man vorher gehasst hat." Aber ich habe keine Angst vor Menschen. Ich habe Angst vor Hass. Und davor, was er mit Menschen macht.

Die "Schwedische Widerstandsbewegung": Eine Neonazi-Organisation mit strengen hierarchischen Strukturen und VerhaltenskodizesBild: Getty Images/AFP/J. Nackstrand

Ein paar Telefonate später sitze ich zusammen mit der Fotografin Eva Tedesjo im Auto auf dem Weg nach Varnamo. Einige Stunden danach, in einer leeren Hotellobby, treffe ich jemanden, der einst Angst in mein Leben und das meiner Familie brachte. Martin war in der Neonazi-Szene aktiv, seit er 16 Jahre alt war. 2016 stieg er aus. Jetzt ist Martin 30 Jahre alt. Wir beginnen unser Gespräch mit etwas, das wir gemeinsam haben. Denn auch Martin erhält jetzt Drohungen von seinen Ex-Kollegen: "Meine letzte Drohung habe ich gestern erhalten. Einer der Führer der Nordischen Widerstandsbewegung hat mir auf Facebook geschrieben, ich solle sterben. Ein anderer meinte, jemand soll mir die Kehle durchschneiden."

Interview mit einem Aussteiger

Martin, wie wurden Sie zum Neonazi?

Meine Familie gehörte zu den Zeugen Jehovas, mein Vater kontrollierte mich sehr stark. Als ich ihm mit 16 sagte, ich wolle die Zeugen Jehovas verlassen, gab er mir eine Tasche und sagte, ich solle verschwinden. Ich landete in einer Pflegefamilie. Das war eine große Veränderung für mich - von totaler Kontrolle zu gar keiner Kontrolle. Ich fing an, mit Freunden rumzuhängen, die Neonazis waren. Ich hatte sie in der Schule kennengelernt.

Was taten die Lehrer gegen Rassismus?

Auf den Korridoren wurde viel solches Zeug geredet. Die Lehrer guckten manchmal hin und schüttelten den Kopf. Aber niemand von den Erwachsenen reagierte wirklich, wenn ich komische Bücher las, Springerstiefel trug oder ein Hakenkreuz in meiner Brusttasche hatte. Keiner sagte ein Wort.

Wie ging es dann weiter?

Ich fing an, bei der Partei "Nationalsozialistische Front" rumzuhängen. Wir Jugendlichen erledigten für sie die Drecksarbeit: Fenster mit Steinen einwerfen, Drohbriefe und Umschläge mit Waschpulver verschicken. Ich wurde Juden und anderen Ethnien gegenüber immer feindlicher. Die Juden waren sowieso immer an allem Schuld, egal, ob es Drogenmissbrauch oder Terroranschläge waren.

Alexandra Pascalidou (r.) und Martin Karlsson verbinden die Morddrohungen, die sie von Neonazis erhaltenBild: picture-alliance/dpa/E. Tedesjö

An welchen Aktivitäten haben Sie in dieser Zeit teilgenommen?

Es gab Vorträge über die "wahre Geschichte" des Zweiten Weltkriegs. Wir übten, wie man kämpft, wie man jemanden mit einem Messer tötet. Wir aßen auch nur schwedisches Essen, nichts Ausländisches. Einmal aß ich eine Pizza. Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen und Angst, dass jemand dahinterkommen könnte. Wenn Leute anderer Meinung waren als wir, zerstörten wir ihr Eigentum und bedrohten ihre Kinder. Wir fotografierten sie heimlich und schickten ihren Eltern die Bilder zu.

"Ich schäme mich schrecklich"

Wer war ich damals in Ihren Augen?

Sie sind ja jahrelang öffentlich dafür eingetreten, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Sie haben Rassismus öffentlich kritisiert. Das hat Sie für uns zum Gesicht des Zionismus in Schweden gemacht. Sie waren Abschaum. Heute schäme ich mich schrecklich dafür, dass ich so dumm war und so dachte.

Was haben Sie getan, um mir zu schaden?

Ich habe unter verschiedenen Pseudonymen viel in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter kommentiert, etwa "Wir kriegen dich" oder "Ich werde dir mit meiner Axt einen Besuch abstatten". Ich wollte Sie einschüchtern, aber das funktionierte nicht.

Manchmal hatte ich sehr wohl Angst. Warum bitten Sie jetzt um Vergebung?

Mein Neonazi-Dasein war wie eine Alkoholsucht. Ein ehemaliger Alkoholiker gab mir den Zwölf-Schritte-Plan der Anonymen Alkoholiker. Einer der Schritte ist, sich bei denen zu entschuldigen, die man verletzt hat. Sie sind nicht die einzige, der ich so eine Mail geschrieben habe.

Was dachten Sie, als Sie meinen Anruf erhalten haben?

Ich war total erstaunt. Ich hätte nie gedacht, dass meine Entschuldigung Ihnen etwas bedeuten würde.

Plakate von Alexandra Pascalidou auf einer Neonazi-Demonstration Bild: privat

Sie bedeutet mir sehr viel. Was hat Sie dazu gebracht, endgültig die Neonazi-Szene zu verlassen?

Ich habe mich in eine Frau verliebt, die ausländischer Herkunft war. Ich begann, sie heimlich zu treffen. Ich war verwirrt und fragte mich, was falsch damit war. Später sagte ich ihr, dass wir nicht zusammen sein könnten, weil ich sie sonst in Gefahr bringen würde. 

"Einfacher zu hassen als zu lieben"

Wie hat sich Ihr Leben durch den Austritt verändert?

Zuerst war da eine große Leere, ich konnte wenig fühlen. Aber mittlerweile ist es besser. Ich tue Dinge, die ich früher nie getan hätte, zum Beispiel mit Migranten ins Gespräch kommen. Trotzdem spüre ich manchmal, dass der Hass nicht vollständig verschwunden ist. Es ist einfacher zu hassen als zu lieben. Und oft fühle ich mich schuldig für alles, was ich getan habe. Ich verstehe nicht, wie Menschen jemanden wie mich überhaupt mögen können.

Es war mutig von Ihnen, mir diese Mail zu schreiben und sich zu entschuldigen.

Ich finde es viel beeindruckender, dass Sie mir tatsächlich die Chance dazu geben. Es ist schwieriger, jemandem zu vergeben als jemanden um Vergebung zu bitten.

Das habe ich schon in dem Moment getan, in dem ich Ihre Mail gelesen habe. Vergebung ist auch Selbstbefreiung.

Alexandra Pascalidou ist eine schwedische Schriftstellerin, Journalistin und Moderatorin. Sie hat griechische Eltern und wuchs in Rinkeby auf, einem Vorort Stockholms, der für seinen hohen Ausländeranteil bekannt ist. Pascalidou wurde mehrfach für ihren Einsatz gegen Rassismus ausgezeichnet.

Martin Karlsson war 13 Jahre lang Mitglied der "Schwedischen Widerstandsbewegung", 2016 stieg er aus. Die Neonazi-Gruppe wurde 1997 gegründet, 2016 ging aus ihr die "Nordische Widerstandsbewegung" (NMR, von Schwedisch: Nordiska Motståndsrörelsenhervor mit Gruppen in allen skandinavischen Ländern. Laut der Expo Stiftung (schw.: Stiftelsen Expo), die rechten Extremismus und Rassismus untersucht, ist die NMR die gewalttätigste Neonazi-Organisation in Schweden. Ihre Ideologie basiert sowohl auf dem Mythos einer jüdischen Weltverschwörung als auch auf Rassentheorien.

Eine längere Version dieses Artikels wurde zuerst in der der schwedischen Tageszeitung "Dagens Nyheter" veröffentlicht.

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