1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KonflikteNahost

Die Tunnel der Hamas: Herausforderung für Israels Armee

Cathrin Schaer
24. Oktober 2023

Die von der Hamas gegrabenen Tunnel stellen die israelische Armee im Fall einer größeren Bodeninvasion im Gazastreifen vor enorme Probleme. Sie machen die ohnehin schwierige urbane Kriegsführung noch komplizierter.

Blick in eine zerstörte Straße in Gaza-Stadt, 15.10.23
Eine größere Bodeninvasion im Gazastreifen könnte mit schwierigen und tödlichen Kämpfen einhergehen, warnen ExpertenBild: Middle East Images/ABACA/IMAGO

Eine der größten Herausforderungen bei der erwarteten Bodenoffensive im Gazastreifen liegt für die israelische Armee unter der Erde: das Tunnelsystem der militanten Hamas. Die von den USA, der Europäischen Union und anderen Ländern als Terrororganisation eingestufte Gruppe betreibt das mutmaßlich größte Tunnelnetz der Welt - Anlagen in vergleichbarer Größenordnung hat sonst nur Nordkorea.

Angesichts von hunderten Kilometern an Tunneln sei die Herausforderung für die israelische Armee im Gazastreifen einzigartig, schrieb vor wenigen Tagen John Spencer von der US-Militärakademie West Point in einem Artikel. "Der ausgedehnte unterirdische Komplex ist ein Problem voller Heimtücke, für das es keine perfekte Lösung gibt."

Insgesamt soll das Netz laut Berichten und Schätzungen etwa 1300 Tunnel mit einer Gesamtlänge von rund 500 Kilometern umfassen. Einige reichen demnach bis zu 70 Meter tief in die Erde. Laut den Berichten sind die meisten jedoch nur etwa zwei Meter hoch und zwei Meter breit.

Experten gehen davon aus, dass unter anderem die rund 200 von der Hamas nach ihrem Terrorangriff am 7. Oktober aus Israel entführten Geiseln in den Tunneln untergebracht sind. Diese dienen demnach vor allem auch zur Lagerung von Waffen, Lebensmitteln und Wasser, dazu Generatoren, Treibstoff und anderer Ausrüstung. Experten nehmen an, dass sich zusätzlich auch Teile der Hamas-Führung im Untergrund verschanzen. Die Tunnel dürften die ohnehin schon komplexen und schwierigen Kampfhandlungen im eng besiedelten und seit dem Hamas-Angriff mit Vergeltungsbombardements attackierten Gazastreifen zusätzlich erschweren.

"Die Tunnel erlauben es den Kämpfern, sich sicher und frei zwischen mehreren Kampfpositionen zu bewegen", so Spencer. "Damit neutralisieren sie Israels Vorteile hinsichtlich Waffen, Taktik, Technologie und Organisation."

Die israelische Armee stehe also nicht nur wegen des der Hamas vorgeworfenen Missbrauchs von Zivilisten und Geiseln als "menschliche Schutzschilde" vor der Schwierigkeit, oftmals nicht eindeutig zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden zu können. Nach internationalem Recht sei dies jedoch vorgeschrieben, so Mike Martin, Spezialist für Psychologie der Kriegsführung am Kings College in London, gegenüber der DW. Israel hat die Bevölkerung von Gaza-Stadt bereits vor Tagen aufgefordert, sich zu ihrer Sicherheit in den Süden des Landes zu begeben.

Sie habe zudem mit typischen Problemen städtischer Gelände zu tun. In solchen Geländen werde der Kampf in drei Dimensionen geführt, so Martin: "Man wird von oben, etwa von Hochhäusern aus, beschossen, natürlich auch aus dem Untergrund. Und zerstört man ein Gebäude, wird es zu einem Trümmerhaufen, aus dem heraus sich jemand dann sehr leicht verteidigen und auf dich zurückschießen kann", so Martin zur DW. "Das urbane Terrain ist das schwierigste für eine Armee überhaupt."

Vorbereitung für die erwartete Bodeninvasion? Israelische Armee-Einheiten nahe der Grenze zum GazastreifenBild: Jim Hollander/newscom/picture alliance

Schwierige Suche

Ursprünglich dienten die unterirdischen Tunnel nicht zuletzt dazu, angesichts der Blockade Waren zwischen dem Gazastreifen und Ägypten und später auch zwischen dem Gazastreifen und Israel zu schmuggeln. Angesichts der verstärkten israelischen Überwachungsversuche mithilfe von Drohnen und anderen elektronischen Spionagegeräten investierte die Hamas aber immer stärker in den Ausbau des Tunnelnetzes.

Doch erst bei einer Militäroperation in Gaza im Jahr 2014 entdeckte die israelische Armee das wahre Ausmaß der Hamas-Tunnel. Daraufhin errichtete Israels Regierung eine unterirdische Sperre entlang der Grenze zum Gazastreifen. Diese sollte verhindern, dass die Tunnel der Hamas bis auf die israelische Seite reichen.

Die Tunnel zu lokalisieren ist nicht einfach. Allerdings gibt es verschiedene Möglichkeiten, sie aufzuspüren - so etwa mit Hilfe von Radar und anderen Detektionsverfahren, die etwa thermische Muster oder akustische Signale messen.

Meistens werden die unterirdischen Gänge jedoch durch menschliche Aufmerksamkeit aufgespürt, berichtete der Thinktank 'Rand Corporation' bereits 2017 in einem Report. Dies geschehe etwa durch patrouillierende Soldaten - oder wenn plötzlich nicht mehr das Telefonsignal eines verfolgten Hamas-Kämpfers verfolgt werden kann, weil dieser in einen unterirdischen Gang geflohen ist.

Unterirdisches Wegesystem: Blick in einen Tunnel im Gazastreifen, hier eine Aufnahme von März 2023 mit Kämpfern der Terrorgruppe "Islamischer Dschihad" Bild: Ashraf Amra/AA/picture alliance

Kampf im Untergrund

Generell wurden in der Vergangenheit zur Räumung von Tunneln meist Tränengas oder chemische Mittel eingesetzt, wie Daphne Richemond-Barak, eine der weltweit führenden Expertinnen auf diesem Gebiet, in ihrem Buch "Underground Warfare" schreibt. Diese Methoden gälten heute aber vermutlich als illegal, so die Autorin.

Möglich ist es zudem, die Tunnel zu bombardieren. Israel verfügt über so genannte "Bunker Buster"-Bomben, die tief in den Untergrund eindringen können. Allerdings ist der Gazastreifen eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt: blockiert durch Israel und meistenteils auch Ägypten, rund 40 Kilometer lang und sechs bis vierzehn Kilometer breit - mit einer Bevölkerung von 2,2 Millionen Menschen. Selbst wenn das israelische Militär also wüsste, wo sich die Tunnel befinden, würden die spezifischen Eigenarten des Gazastreifens eine Bombardierung extrem schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen.

Israel habe zudem bereits so genannte Präzisionsbomben eingesetzt, um Tunnel zu schließen oder unbrauchbar zu machen, berichtet die Rand Corporation. Der Einsatz habe jedoch nur bedingt den gewünschten Erfolg gehabt.

Eine weitere Herausforderung für die israelische Armee: Der Kampf in Tunneln ist alles andere als einfach. Unter der Erde ist es meist dunkel und kalt, Geräusche - etwa Gewehrfeuer - sind lauter als an der Erdoberfläche, zudem wirbelt der Einsatz von Waffen Staub auf. Außerdem könnten die Tunnel leicht mit Sprengfallen versehen werden. In der Vergangenheit durften israelische Soldaten die Tunnel erst betreten, nachdem sie von Spezialeinheiten gesichert worden waren.

Seit 2014 setzt das israelische Militär Spezialeinheiten für den Kampf in Tunneln ein. Diese trainieren in simulierten physischen oder virtuellen Umgebungen. Zu den Spezialeinheiten gehören zum einen in der Bedienung spezieller Sensoren geschulte Soldaten und zum anderen solche, die eine eigene Ausbildung für den Kampf im Untergrund durchlaufen haben. Diese Einheiten werden zudem von Robotern und ausgebildeten Hunden unterstützt.

Grenze zwischen Israel und dem GazastreifenBild: JACK GUEZ/AFP/Getty Images

Ungewisse Erfolgsaussichten

Er habe noch nie derartig viele Vorbereitungen für einen Tunnelkrieg gesehen wie jene, die die israelische Armee leiste, sagt John Spencer von der Militärakademie West Point, einer der Gründer der Internationalen Arbeitsgruppe für unterirdische Kriegsführung. 

Daphne Richemond-Barak hingegen, ebenfalls im Gründungsteam der Arbeitsgruppe, äußert Bedenken. "Israel müsste eine langwierige und umfangreiche Luft- und Bodenoperation durchführen, um diese unterirdische Infrastruktur zu zerstören", schrieb sie diesen Monat in einem Artikel für die britische Tageszeitung 'Financial Times'.

Die Armee könnte laut der Expertin die Tunnel zwar zum Einsturz bringen, überfluten oder anderweitig zerstören und versiegeln. Doch das wäre sehr schwierig, vor allem unter Beschuss im städtischen Umfeld. Zudem könnte eine solche Operation Monate dauern. "Selbst in einem solchen Szenario - das unvorstellbare menschliche Kosten verursachen würde - ist es unwahrscheinlich, dass das gesamte Tunnelnetz des Gazastreifens zerstört würde", so Richemond-Barak.

Auch Mike Martin, Experte am Kings College, sieht die Tunnel als enorme Herausforderung. "Mit Radartechnik und seismischer Aufklärung lassen sich die Tunnel zwar aufspüren", sagt er im DW-Gespräch. Allerdings gebe es im israelischen Geheimdienstapparat Schwächen. Martin erinnert an den Beginn der jetzigen Gewalteskalation in Nahost. Man habe dort einen Angriff dieser Größenordnung überhaupt nicht kommen sehen, erklärt er mit Blick auf den Angriff der Hamas vom 7. Oktober mit über 1200 Todesopfern. "Das weist darauf hin, dass es einige blinde Flecken gibt. Mir scheint, dass Israel angesichts dieser Aufklärungslücke nicht wirklich weiß, wie die Hamas den Gazastreifen verteidigen will und was ihre weiteren Pläne sind. Hinsichtlich der israelischen Erkenntnisse muss man also einige große Fragezeichen setzen."

Mitarbeit: Kevin Lynch

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Wann kommt Hilfe für Zivilisten im Gazastreifen?

02:40

This browser does not support the video element.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen