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Politik

Ein neuer, alter Nachbar

Wojciech Szymanski
2. Oktober 2020

An der ehemaligen Grenze zwischen Polen und der früheren DDR brachte die deutsche Wiedervereinigung viele Schwierigkeiten mit sich. Heute herrscht hier eine neue, gelebte Normalität.

Deutsch-polnische Grenze | Stadt Guben an der Neiße
Die deutsch-polnische Grenze in Guben/Gubin von der polnischen Seite aus gesehen Bild: Wojciech Szymanski/DW

Wenn man nicht aufpasst, kann man die Grenze sehr einfach übersehen. Die Fußgängerzone führt direkt an die Neiße-Brücke, nichts informiert darüber, dass das Bundesgebiet bald endet. Erst auf der anderen Seite des Flusses merkt man, dass die Beschilderung anders aussieht und die Straßen keine deutschen Namen mehr tragen. Aus Guben, am östlichsten Rand Brandenburgs, wird plötzlich das polnische Gubin.

Blick über die Neiße vom deutschen Guben auf Gubin in PolenBild: Wojciech Szymanski/DW

Schengen macht's möglich

40 Jahre lang verlief hier entlang der Neiße die Grenze zwischen der ehemaligen DDR und Polen. Vor 30 Jahren wurde sie zur Bundesgrenze des wiedervereinten Deutschlands. Seit 2007 gibt es sie aber nur noch formell, denn hier ist jetzt europäischer Schengen-Raum. Von Schlagbäumen und Grenzbeamten fehlt jede Spur. Ständig bewegen sich Menschen von einer Seite zur anderen und wieder zurück. Autos mit polnischen und deutschen Kennzeichen fahren aneinander vorbei. Der Bus aus Guben erreicht seine Endhaltestelle in Polen.

Für die dutzenden polnischen Schüler, die jeden Tag aus Gubin und Umgebung zur Europaschule in Guben oder zum Gymnasium im nahen Neuzelle pendeln, hören sich die Geschichten von Passkontrollen und endlosen Schlangen an der Brücke wie Science Fiction an.

"Meine Mutter bringt mich mit dem Auto zum Bahnhof in Guben, da steige in den Zug nach Neuzelle ein. Die Fahrt dauert fünfzehn Minuten", erzählt ein polnischer Schüler des Neuzeller Gymnasiums. Warum er nicht in Gubin zur Schule geht? Er schätze den internationalen Charakter seiner Schule, außerdem wolle er gut Deutsch lernen, sagt der Teenager: "Mir gefällt es dort - trotz der Anfahrt."

Europäische Normalität in Gubin-GubenBild: Wojciech Szymanski/DW

Auch Anna und Sebastian Dziadek ließen ihre Kinder zur Schule auf der deutschen Seite gehen. Sie stellen fest, dass immer mehr polnische Kinder die Kitas oder Schulen "drüben" besuchen. "Es geht um die Sprache. Wo verdient man hier Geld? In Deutschland", sagt Anna Dziadek. "Die Eltern wissen, was ihnen selbst fehlte: die Sprache", fügt sie hinzu. Sie wollen, dass ihren Kindern dieses Problem erspart bleibt.

Kapitalismus pur

Anna und Sebastian wohnen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Gubin. Sie konnten in den letzten Jahren viele Etappen des deutsch-polnischen Zusammenwachsens in der Region mitverfolgen. Die deutsche Einheit haben sie vor allem in Erinnerung als Zeit eines wilden Handels entlang der Grenze. "Es war unglaublich. Kapitalismus in seiner reinsten Form. Keine Regeln, keine Steuern, nur tausende Verkäufer und Käufer", erinnert sich Sebastian Dziadek.

Der Umtausch der ostdeutschen Währung gegen West-Mark Mitte 1990 hatte den deutschen Nachbarn eine enorme Kaufkraft verliehen. Polnische Produkte wurden auf einmal spottbillig, Gubin und andere polnische Grenzstädte zu riesigen Marktplätzen. Gekauft wurde alles: Lebensmittel, Klamotten, Schuhe, Zigaretten, Fahrräder, Möbel. Auch Anna, damals Teenagerin, handelte mit Champignons von der Plantage eines Bekannten. Nach dem Unfalltod ihres Vaters konnte sie damit die ganze Familie finanziell unterstützen. "Es war sehr lukrativ", sagt sie.

Die Neiße-Brücke zwischen Guben und Gubin an der deutsch-polnischen GrenzeBild: Wojciech Szymanski/DW

Der Handel mit den Deutschen verhalf vielen polnischen Familien, die schwere Zeit der 90er Jahre zu überstehen. Genauso wie auf der deutschen Seite der Neiße, wo die großen Betriebe Schritt für Schritt verschwanden, baute auch Polen die Zentralplanwirtschaft ab. Ein paar Jahre nach der Wende war vom Industriestandort Gubin nicht viel übriggeblieben.

Auch Guben hat die Wende hart getroffen. Das riesige Chemiefaserwerk, ein Vorzeigeprojekt der DDR, wurde aufgeteilt und verkauft. Arbeitslosigkeit und Abwanderung nahmen dramatische Ausmaße an.

"Die allgemeine Stimmung war schon traurig", erinnert sich Monika Wachsmann, ehemalige Beamtin am Standesamt der Stadt Guben. Was wird jetzt mit uns, wie geht es weiter, hätten sich die Leute gefragt, deren Arbeit plötzlich nicht mehr gewünscht war und die sich von der neuen Realität überrumpelt gefühlt hätten. "Manche Menschen hatten regelrecht Wortfindungsstörungen, wussten nicht, wie sie das ausdrücken sollen, was sie sagen wollen. Ich habe manchmal für die Beurkundung eines Sterbefalls einen halben Tag gebraucht, weil die Leute nicht mehr gehen wollten."

Ein fremder Nachbar

Immerhin brachte die Wende eine neue Öffnung nach Osten, hin zu Polen - einem Nachbarland, das zwar nur ein paar Dutzend Meter entfernt liegt, aber die ganzen 1980er Jahre hindurch dicht abgeriegelt war. Und dadurch sehr fern blieb.

Monika Wachsmann,ehemalige Beamtin am Gubener Standesamt Bild: Wojciech Szymanski/DW

"Mit den polnischen Menschen habe ich erst nach der Wende gute Kontakte geknüpft und zwar durch Kultur", erzählt Monika Wachsmann. Der Gubener Stadtchor, in dem sie aktiv ist, startete schnell eine Kooperation mit dem Chor in Gubin. Ein paar Jahre später übernahm eine Polin die Leitung der Gubener Gruppe.

Seitdem gibt es jährlich ein großes gemeinsames Konzert als Fest der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Auch andere gemeinsame Projekte haben ihren festen Platz im Alltag, sei es Kultur oder Sport. Dass man beide Städte als einen Organismus betrachtet, wird immer offensichtlicher. "Als jetzt nach Corona die Grenze wieder aufging, bin ich um Mitternacht an der Brücke gewesen, mit ganz lieben Menschen. Und habe gefühlt, jetzt habe ich meine Stadt mit 360 Grad wieder", sagt Wachsmann.

Anna und Sebastian Dziadek haben mehrere berufliche Stationen hinter sich - auch in Deutschland, und nicht ohne Erfolg. Einige Jahre leitete Sebastian Dziadek die Geschäftsführung der Deutschen Binnenreederei AG, die 2007 von der polnischen Aktiengesellschaft Odratrans übernommen wurde. Es war einer der ersten Fälle, dass ein Unternehmen aus Polen eine traditionsreiche deutsche Firma kaufte. Am Ende kehrte das Ehepaar aber doch zurück auf die polnische Seite der Neiße. Anna ist eine bekannte Öko-Aktivistin, die zusammen mit deutschen Freunden jahrelang gegen einen geplanten Tagebau in der Region gekämpft hat.

Blick von der polnischen auf die deutsche Seite der Neiße: Willkommen in Guben (Brandenburg)Bild: Wojciech Szymanski/DW

Die finanzielle Kluft zwischen Menschen auf beiden Seiten der Neiße werde immer geringer, sagt Sebastian Dziadek. Aber am Anfang, in den 1990ern, seien die Unterschiede gigantisch gewesen. "Deshalb war es schwierig, irgendetwas zusammen zu unternehmen. Es war nicht einmal möglich, in Deutschland ein Bier zu trinken, weil das für uns zu teuer war", sagt Dziadek. "Unsere Kinder verstehen nicht, wie es sich anfühlt, wenn man sich jetzt ein Mittagessen in einem Restaurant in Deutschland leisten kann", fügt Anna Dziadek hinzu. Es sei zwar immer noch teurer als in Polen. Aber nur noch bisschen.

Am polnischen Ende der Neiße-Brücke begrüßt die Gäste ein Schild "Eurostadt Guben-Gubin". Mit  europäischen Fördermitteln versucht man seit Jahren, die Bildung einer starken, grenzüberschreitenden Region zu beschleunigen. Die Hilfe ist nötig. Auf beiden Seiten kämpft man mit Schwierigkeiten. Sei es die Demografie in Guben oder der infrastrukturelle Nachholbedarf in Gubin. Immerhin ist die Grenze keine Hürde mehr, keine physische. Und auch in den Köpfen der Bewohner dieser Region schrumpft sie zunehmend. Auch das eine Folge der Wiedervereinigung.

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