Das verschleuderte Potenzial der Sprachenvielfalt
11. Juli 2006Einwanderer müssen in Deutschland möglichst rasch die Landessprache lernen, fordern deutsche Politiker. Das mache natürlich Sinn, erklärt Ingrid Gogolin. Aber um wirklich dazuzugehören genüge es nicht, sich auf Deutsch verständigen zu können, so die Professorin für interkulturelle Bildungsforschung an der Universität Hamburg. "Es wird von den Menschen verlangt, dass sie sich also auch zur deutschen Sprache bekennen, so als sei es ihre Muttersprache. Das hat vor allem historische und ideologische Gründe", sagt sie. In der Bundesrepublik dominiert die deutsche Sprache, obwohl rund ein Fünftel der Einwohner aus anderen Ländern zugezogen ist. Die Vorstellung, dass ein Land und eine Sprache eng zusammen gehören, habe sich im 19. Jahrhundert entwickelt und sei nach wie vor tief im Bewusstsein der Deutschen verankert, sagt Gogolin.
Mehrsprachigkeit als Mehrwert
Die Hochschullehrerin hingegen beurteilt die Sprachenvielfalt in Deutschland als kulturelle Bereicherung. Es sei wichtig, dass die Einwanderer, deren Kinder und Kindeskinder ihre Herkunftssprache nutzen, im täglichen Miteinander genau so wie vor dem Hintergrund der Globalisierung. "Ich sehe das deshalb als eine Chance, weil wir als ein Land im Zentrum Europas doch eigentlich vielfältige Kontakte zu vielen Menschen mit anderen Sprachen pflegen", sagt Gogolin. In einer Studie hat sie festgestellt, dass viele kleine und mittlere Unternehmen heute schon von ihren mehrsprachigen Angestellten profitieren."
Das bestätigt auch Michael Clyne. Für den Linguisten an der Universität im australischen Melbourne trage die Beherrschung mehrerer Sprachen auch zum gegenseitigen Verständnis bei. Besonders in einem Einwanderungsland, wo viele Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zusammen leben. "Es ist schade, dass nicht mehr Deutsche von den Schätzen Gebrauch machen können, von den sprachlichen Schätzen, und sich nicht genügend an der mehrsprachigen Gesellschaft beteiligen können", sagt er.
Kinder lernen von Senioren
Im Gegensatz zu Deutschland hat im Einwanderungsland Australien die Pflege der rund 240 Sprachen dort einen hohen Stellenwert. Radio- und Fernsehstationen strahlen ihre täglichen Programme in verschiedenen Sprachen aus, es gibt einen Dolmetscherdienst beim Telefonieren, Kinder lernen von Senioren. Mehr als vierzig Sprachen stehen auf den schulischen Lehrplänen. Für Sprachen, die man in der eigenen Schule nicht lernen kann, gibt es Samstagsprogramme in anderen staatlichen Schulen. "Es ist ganz egal, ob man Französisch oder Türkisch oder Farsi oder Ukrainisch, Tamilisch oder Amharisch lernt - alle Sprachen sind gleichberechtigt", sagt Clyne. "In unserem Land bekommt jeder zehn Prozent Bonus, der eine Abiturprüfung in einer zweiten Sprache besteht."
Von solchen Zuständen träumt Aydan Özuguz. An deutschen Schulen werde beispielsweise Türkisch viel zu selten unterrichtet, sagt die Sprecherin für Zuwanderung und Integration der Sozialdemokratischen Partei in Hamburg, SPD. "Das ist eine Ressource. Es sprechen ganz viele Kinder, und natürlich hätten sie eine ganz andere Motivation, dieses auch wirklich zu entwickeln", sagt sie. Diese Motivation wäre dann da, wenn die Beherrschung der Muttersprache benotet würde.
Abstellgleis Hauptschule
Doch die Realität sieht anders aus. Die muttersprachliche Kompetenz zählt wenig, mangelnde Deutschkenntnisse führen hingegen dazu, dass überdurchschnittlich viele Kinder aus Migrantenfamilien auf der Hauptschule landen. Das sei die niedrigste Stufe im dreigliedrigen Schulsystem, sozusagen das Abstellgleis. "Das ist ein Armutszeugnis für uns. Denn andere europäische Länder haben auch schneller reagiert, haben ihre Schulsysteme umgestellt, teilen Klassen, fördern anders", sagt Aydan Özuguz. In Deutschland dagegen werde noch immer diskutiert, ob Zweisprachigkeit oder Mehrsprachigkeit überhaupt gut sei.
Manche Kindergärten fördern bereits jetzt die Mehrsprachigkeit ihrer Zöglinge. Das ist jedoch die Ausnahme. Es fehlt an ausgebildeten Erzieherinnen. Dabei käme es auch Kindern mit Deutsch als Muttersprache zu Gute, so früh wie möglich eine weitere zu lernen. "Die frühe Begegnung mit einer Sprache, die einem fremd ist, erleichtert einem später das Lernen anderer Sprachen", erklärt die Bildungsprofessorin Ingrid Gogolin: Wenn Kinder früh Türkisch lernten, falle es ihnen später leichter, Englisch und Französisch zu lernen.
Noch steht die Professorin ziemlich allein da mit ihrer Ansicht. Doch sie hofft, die entscheidenden Politiker irgendwann einmal überzeugen zu können. Mit Freude habe sie während der WM beobachtet, wie sich die Menschen auf einmal sprachlich helfen können: "Und das wünsche ich mir als eine Grundhaltung für den alltäglichen Umgang miteinander. Vielleicht können wir das von der Fußball-Weltmeisterschaft mitnehmen."