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Politik

Zwischenstation auf dem Weg in die Gaskammern

1. Oktober 2020

Vor 80 Jahren errichteten die deutschen Besatzer in Warschau das größte Ghetto im besetzten Europa. Hunderttausende Juden wurden dort zusammengepfercht, die meisten von ihnen später in Vernichtungslagern getötet.

Aufstand im Warschauer Ghetto
Mai 1943: Jüdische Frauen, Männer und Kinder werden von deutschen Soldaten aus dem brennenden Ghetto getrieben Bild: picture-alliance/dpa

Am 2. Oktober 1940 unterzeichnete der Gouverneur des Distrikts Warschau, Ludwig Fischer (1905-1947), eine Verordnung zur Abgrenzung eines "jüdischen Wohnbezirks" in der besetzten Hauptstadt Polens. Die pulsierende Metropole mit der größten jüdischen Gemeinde Vorkriegseuropas sollte bald das größte Ghetto auf dem europäischen Kontinent bekommen.

Im Herbst 1939, als die deutsche Wehrmacht Polen überfiel, lebten dort fast 3,5 Millionen Juden - zehn Prozent der Bevölkerung des Landes. Die Besatzer beschlagnahmten ihren Besitz und pferchten sie in 400 Ghettos.

In Warschau wurde der "jüdische Wohnbezirk" am 16. November 1940 mit einer 3,5 Meter hohen, stacheldrahtbewehrten Mauer endgültig von der Außenwelt abgeriegelt. Juden, die außerhalb des Ghettos ohne Passierschein angetroffen wurden, drohte die Todesstrafe.

Obwohl die 280.000 Warschauer Juden ein Drittel der Einwohner der polnischen Hauptstadt stellten, wurde für das Ghetto nur 2,4 Prozent des Stadtgebiets vorgesehen. Nach Zwangsumsiedlungen aus anderen Orten im besetzten Polen mussten sich dort zeitweise bis zu 450.000 Menschen auf vier Quadratkilometern zusammendrängen.

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki überlebte das Warschauer Ghetto Bild: picture-alliance/dpa/F. Kleefeldt

Unwürdige Lebensbedingungen

"Das Leben war vor allem gekennzeichnet durch eine ungeheure Enge", erinnerte sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920-2013), der das Warschauer Ghetto überlebte. "Die hygienischen Bedingungen waren fatal. TBC, Typhus und Fleckfieber breiteten sich aus. Jeden Morgen lagen Leichen vor den Türen und wurden in Massengräbern beerdigt".

Für die deutschen Besatzer dagegen wurde der "jüdische Wohnbezirk" bald eine Touristenattraktion. Die Nazi-Organisation "Kraft durch Freude" (KdF) bot Bustouren durch das Ghetto an.

Dem Historiker Emanuel Ringelblum verdankt die Nachwelt einen umfangreichen Bericht über den Alltag im Warschauer GhettoBild: Public Domain

Ausflügler ohne Mitgefühl

"Zum Friedhof kommen ständig verschiedene Ausflugsgruppen (Soldaten, Zivilbevölkerung), die meisten von ihnen zeigen kein Mitgefühl mit den Juden. Ein besonderes Interesse weckt die Scheune, in der tagsüber Dutzende von Leichen liegen. Ich war heute dort, es ist makaber", notierte Emanuel Ringelblum (1900-1944) am 20.06.1941. Die Leichen sahen "wie Skelette" aus.

Dem jüdischen Historiker Ringelblum verdankt die Nachwelt einen umfangreichen Bericht über das Alltagsleben im Warschauer Ghetto, der inzwischen zum Weltdokumentenerbe der UNESCO gehört. Hunger die häufigste Todesursache im Ghetto. Laut deutscher Verordnung bekamen die Einwohner 184 Kilokalorien täglich, während die Norm für Polen bei 634 und für Deutsche bei 2.310 Kilokalorien lag.

Massendeportationen

Die Ghettos waren von den Nazis nur als Station auf dem Weg in die Vernichtungslager gedacht. Nachdem im Januar 1942 bei der "Wannsee-Konferenz" die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen worden war, begannen die Deutschen, die Ghettos zu "liquidieren" und ihre Einwohner in die Gaskammern zu schicken.

Ab Juli 1942 wurden binnen sieben Wochen 300.000 Juden aus Warschau in das 80 Kilometer entfernte Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet. Im Ghetto blieben 35.000 meist junge Männer zurück, die offiziell für deutsche Betriebe arbeiteten. 25.000 weitere Einwohner waren untergetaucht. Immer mehr von ihnen entschlossen sich zum Widerstand. Sie wollten lieber im Kampf sterben als in den Gaskammern.

SS-Männer nehmen während des Aufstandes im Ghetto jüdische Kämpfer festBild: picture-alliance/dpa

Der Aufstand

Als am 19. April 1943 SS-Kolonnen ins Ghetto einmarschierten, um die letzten verbliebenen Einwohner zu deportieren, wurden sie vollkommen überrascht: Niemand hatte erwartete, dass Juden Widerstand leisten können. "Die Aufständischen beschossen Panzer und Fahrzeuge und bewarfen sie mit Molotowcocktails. Im Verlauf einer halben Stunde waren unsere Einheiten zerschlagen und demoralisiert", notierte SS-Gruppenführer Jürgen Stroop.

750 mit Pistolen und Handgranaten bewaffnete Kämpfer verteidigten sich über drei Woche lang gegen rund 2.000 schwer bewaffnete deutsche Soldaten sowie SS- und Polizeikräfte. Der 23-jährige Anführer des Aufstands, Mordechaj Anielewicz (1919-1943), konnte noch einige Tage vor seinem Tod schreiben: "Was wir erlebt haben, lässt sich nicht mit Worten beschreiben: Zweimal zwangen wir die Deutschen, das Ghetto fluchtartig zu verlassen. Der Traum meines Lebens ist jedenfalls in Erfüllung gegangen: Das Ghetto verteidigt sich selbst". Doch letztlich hatten die Aufständischen keine Chance. Als am 16. Mai 1943 die Große Synagoge zerstört wurde, schrieb SS-Mann Stroop: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr".

Bundeskanzler Willy Brandt beim Kniefall vor dem Denkmal der Helden des Warschauer GhettosBild: Imago/Sven Simon

Willy Brandts Kniefall

Der Aufstand und damit auch die Ermordung von 90 Prozent der polnischen Juden rückten in den Fokus der Öffentlichkeit, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (1913-1992) im Dezember 1970 vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos auf die Knie ging. Die unerwartete Geste wurde als Demutsbekundung ausgelegt - und als Symbol für Brandts auf Dialog mit den kommunistischen Regierungen Europas gerichteten Ostpolitik.

Trotzdem wurde der Kniefall von den kommunistischen Medien in Polen verschwiegen; nur eine kleine jüdische Zeitung veröffentlichte eine Notiz. Brandts Geste erinnerte nämlich daran, dass der Holocaust größtenteils im besetzten Polen stattfand – eine Tatsache, die die offizielle Geschichtspolitik der Kommunisten zu verschweigen versuchte.

Das Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos heute Bild: picture-alliance/NurPhoto/J. Arriens

Die polnische Debatte

"In der öffentlichen Debatte sprach man über Verbrechen an Polen, nicht an Juden. Das war eine Polonisierung der Opfer, die die Regierung betrieb", sagt der polnische Historiker Mariusz Jastrzab vom Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN in Warschau. Dass die Hälfte der sechs Millionen polnischer Opfer Juden waren, sei kaum erwähnt worden. "Den kommunistischen Regierungen fehlte die Legitimität und so haben sie immer nur vom polnischen Märtyrertum gesprochen".

Heute wolle Polens Regierung wiederum "die polnisch-jüdischen Beziehungen als Geschichte der Toleranz schildern" und stelle nur die heldenhaften Polen in den Vordergrund, die trotz der dafür drohenden Todesstrafe Juden geholfen haben. Jastrzab warnt vor einem einseitigen "Zuckerbild" der polnischen Geschichte.

Als Begleiter von Schüler- und Touristengruppen ist er aber auch stolz, dass inzwischen jeder, der über das ehemalige Ghetto-Gelände geht, an dieses dunkle Kapitel der Geschichte der polnischen Hauotstadt erinnert wird. Außer der Heldendenkmal gibt es viele Graffitis, Stolpersteine und Gedenktafeln. All das wäre früher undenkbar gewesen.

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