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Ein zerrissenes Land

Jürgen Kahl2. Juli 2012

Die Mongolei ist eine junge Demokratie. Dennoch gaben bei der Parlamentswahl nur 65 Prozent der Wähler ihre Stimmen ab. Die Menschen sind enttäuscht von der Politik. Der Rohstoffreichtum kommt nur wenigen zu Gute.

Jurten und Hochhäuser: Ulan Bator ist eine Stadt der Gegensätze (Foto: DW/Jürgen Kahl)
Jurten und Hochhäuser: Ulan Bator ist eine Stadt der GegensätzeBild: Jürgen Kahl

Die mit Spannung erwartete Neuwahl des Parlaments in der Mongolei hat keiner der beiden großen Parteien einen eindeutigen Regierungsauftrag beschert. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit dem politischen Establishment zeigte sich auch an der für die junge Demokratie ungewöhnlich niedrigen Wahlbeteiligung. Nach 74 Prozent bei der Wahl 2008 gaben diesmal nur 65 Prozent der insgesamt 1,8 Millionen wahlberechtigten Mongolen ihre Stimme ab.

Bauboom im Rohstoffland: Skyline von Ulan BatorBild: Jürgen Kahl

Wegen Unstimmigkeiten zwischen der erstmals eingesetzten elektronischen Auszählung der Stimmen und den per Hand errechneten Ergebnissen lag auch drei Tage nach der Wahl am 28. Juni noch kein endgültiges Ergebnis vor. Nach den vorläufigen, von der Nationalen Wahlkommission bekanntgegebenen Resultaten ist jedoch unstrittig, dass die Demokratische Partei (DP), die als Partei der politischen und marktwirtschaftlichen Wende von 1990 auch den amtierenden Staatspräsidenten stellt,  die post-kommunistische MVP als stärkste Kraft im Parlament knapp abgelöst hat.
 

Sammelbecken der Protestwähler

Nach vorläufigen Berechnungen dürfte die DP auf 31 der insgesamt 76 Parlamentssitze kommen. Das wären acht weniger als sie für die Bildung einer eigenständigen Regierung braucht. Die MVP, die das Wahlergebnis unverzüglich angefochten hat,  musste dagegen schwere Verluste einstecken: Sie verliert voraussichtlich 17 Sitze und muss sich künftig wohl mit nur noch 29 Mandaten begnügen. Die Verluste gehen vor allem auf das Konto ihres abtrünnigen ehemaligen Parteivorsitzenden, Regierungschefs und Staatspräsidenten Nambar Enkhbayar. Er hat sich von der MVP abgespalten.  Enkhbayar hat die Mongolische Revolutionäre Volkspartei (MRVP) unter ihrem altem Namen wiederbelebt und ihr eine links-populistische, nationalistische Ausrichtung gegeben. Der schwer reiche Enkhbayar steht zwar wegen Korruption vor Gericht und durfte nicht selbst kandidieren. Dennoch ist es dem von ihm als Sammelbecken für Protestwähler geschmiedeten Wahlbündnis gelungen, sich mit voraussichtlich elf Sitzen als drittstärkste Kraft zu etablieren.

Land im Zeichen des Rohstoffbooms

Dieser jüngste Ausschlag in der politischen Fieberkurve spiegelt die hektische Entwicklung wider, die das riesige Land mit seiner verschwindend kleinen Bevölkerung von nur knapp drei Millionen Menschen seit der friedlichen Wende vor 22 Jahren durchmacht. Wer die Mongolei besucht, erlebt ein Land im Zeichen des rastlosen Aufbruchs und der Extreme. Dank der Rohstoffexporte boomt die Wirtschaft mit zweistelligen Wachstumsraten. Ähnlich rasant verändert sich die Skyline von Ulan Bator. Kaum ist eines der vielen Neubauviertel fertig gestellt, werden an anderer Stelle weitere hochgezogen: Apartmentblocks mit Quadratmeterpreisen von gestandenen Weltstädten und Statussymbole des Fortschritts, von Fünf-Sterne-Hotels bis zu den Konsumtempeln für gehobene und höchste Ansprüche.

"Selbst in München habe ich nicht so viele Geländewagen der Luxusmarke "Hummer" gesehen wie hier in Ulan Bator", staunt ein deutscher Geschäftsmann.  Auch das ist ein Ausdruck der scharfen sozialen Gegensätze, die den Unfrieden in der Gesellschaft schüren. Auf der einen Seite die schmale Schicht der Neureichen, die ihr Luxusleben zur Schau stellt, und auf der anderen Seite das gut ein Drittel der Bevölkerung ausmachende Heer der Habenichtse, die täglich um das nackte Überleben kämpfen. Am sichtbarsten in den Slum ähnlichen, von über einer halben Million Landflüchtlingen bewohnten Jurtenvierteln, die sich wie ein Belagerungsring um die Hauptstadt ziehen.

Kein fliessendes Wasser für die Bewohner der JurtenviertelBild: Jürgen Kahl

Schatzsuche in der Steppe

Der Stress der Aufholjagd verfolgt den Besucher noch bis tief in die Steppen, wo Touristen aus aller Welt Nomadenromantik und die Stille einer in sich ruhenden Natur suchen. Wer den frisch in das Grasland eingefurchten Autospuren in die Berge folgt, stößt häufig noch auf etwas anderes. Es sind die bereits verlassenen oder aktiven Krater und Schächte, in denen Goldgräber nach dem begehrten Edelmetall schürfen. Bis auf rund einhunderttausend wird die Zahl dieser mehr geduldet als legal operierenden Schatzsucher geschätzt. Ist es Not oder Habgier, was sie antreibt? Die Antwort, die der Anführer eines Goldgräberkollektivs gibt, passt auf beides: "Der Reichtum an Bodenschätzen", sagt er, "gehört allen Mongolen. Wenn uns der Staat unseren Anteil daran verweigert, dann holen wir ihn uns eben selbst."

Als Angela Merkel im Herbst 2011 als erster deutscher Regierungschef in die Mongolei reiste, verfolgte sie zwei Ziele. Der Besuch war Ausdruck des Respekts vor einem Land, das sich als einzige Demokratie in Zentralasien von den autoritär regierten Nachbarstaaten abhebt. Gleichzeitig ging es um handfeste Wirtschaftsinteressen. Auch die deutsche Wirtschaft möchte als Zulieferer von Bergbauausrüstung und als Kunde an dem Schatz teilhaben, der die Mongolei mit seinen noch unausgebeuteten Vorkommen an Kohle, Kupfer, Gold und Uran bis hin zu den heiß begehrten Seltenen Erden zu einem der zehn rohstoffreichsten Länder der Welt macht.

Halblegale Goldgräber holen sich ihren Anteil am Rohstoffboom selbst. (Foto: DW/Jürgen Kahl)Bild: Jürgen Kahl

Segen oder Fluch

Rohstoffreichtum als Segen oder Fluch?  Die Mongolen wurden in ein Wechselbad von Hoffnungen und Enttäuschungen gestürzt; die  Gesellschaft in Gewinner und Verlierer gespalten. In den Kernaussagen ihrer Wahlprogramme scheinen die beiden großen Parteien aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Dafür sprechen die weitgehend identischen Bekenntnisse von MVP und DP für eine "soziale Marktwirtschaft", die gerechte Verteilung der Bergbaugewinne und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Doch das Wahlergebnis zeigt: Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung scheint von der Verwandlung der Oligarchen in Anwälte des Gemeinwohls nicht überzeugt. Sie gingen entweder gar nicht erst zur Wahl – oder flüchteten in die Arme der Populisten.