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Politik

Das zwiespältige Erbe der Rio-Olympiade

Andrew Purcell hin
5. August 2017

Sauberer, sicherer, mobiler sollte Rio de Janeiro durch die Olympischen Spiele 2016 werden - so das Versprechen. Die Realität in den Favelas ein Jahr danach: Armut und Widerstand. Aus Rio Andrew Purcell.

Brasilien Rio de Janeiro - Bungalowsiedlung
Bild: DW/A. Purcell

Wer das Vermächtnis der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro verstehen will, der geht am besten die letzten Kilometer der Avenida Embaixador Abelardo Bueno im Stadtteil Barra de Tijuca Richtung Westen. Vorbei am Wassersportstadion, wo das einzige Wasser in den Pools abgestandene Pfützen sind. Vorbei an der Arena Carioca, die eigentlich zu Schulen umgebaut werden sollte. Vorbei am Haupttor des Olympiaparks, das fünf Tage die Woche mit einem Vorhängeschloss zugesperrt ist.

Weiter geht es am Residence Inn Marriott-Hotel vorbei, in dem eine Suite mit Blick auf die Tennisplätze 120 Euro pro Nacht kostet, bis wir schließlich in eine Straße mit weißen, kastenförmigen Bungalows kommen, die ein hoher Metallzaun umgibt. Das ist alles, was übriggeblieben ist von Vila Autodromo, einer Favela, in der 700 Familien gewohnt haben. Ein zerfleddertes Schild am Eingang zeigt ein Luftbild der Häuser, die eingeebnet worden sind, damit die Olympia-Besucher sie nicht sehen mussten.

Im Vorfeld der Olympischen Spiele symbolisierte Vila Autodromo den Preis, den Rios Arme zahlen mussten, um das Megaevent zu ermöglichen, das die Reichen noch reicher machte. Zwanzig Familien haben sich geweigert umzuziehen, haben Entschädigungen abgelehnt und sich der Räumung widersetzt - sie haben schließlich ein Bleiberecht erkämpft und wohnen in neuen Häusern, die die Stadt errichtet hat.

Vom Favela in die Bungalowsiedlung: Dona Alva de OliveiraBild: DW/A. Purcell

"Wenn die Leute über das Erbe Olympias sprechen, dann denke ich an meine Nachbarin und das Blut, das ihr übers Gesicht läuft. Oder an meinen Freund, der mit einer schweren Kopfverletzung am Boden liegt. Ich denke an zerstörte Häuser und getrennte Familien", sagt Sandra Maria de Souza, die sich in ihrem Viertel engagiert. "Die einzigen, die dabei gewonnen haben, waren die Bauunternehmen, die den Olympiapark errichtet haben. Das einzige Erbe ist das der Reichen."

Wir gehen spazieren und Sandra Maria de Souza erklärt, wo der Frisör war und der Supermarkt, die Bäckerei und die evangelische Kirche. Sie findet, der Bürgermeister hätte auch die Straßen pflastern, Abwasserkanäle anlegen und neue Häuser für alle bauen lassen können, statt sie daraus zu vertreiben. "Sie hätten viel weniger Geld ausgegeben, es wäre ein großartiges soziales Erbe und ein Beispiel für die Welt gewesen."

Engagiert für die Nachbarschaft: Sandra Maria de Souza (l.) und Maria da Penha (r.)Bild: DW/A. Purcell

"Fortschritt muss doch allen nützen", bekräftigt ihre Freundin Maria da Penha. "Wir sind ja nicht gegen gegen Fortschritt - aber gegen Missmanagement und dass die Regierung dem Kapital dient, nicht der Bevölkerung." Ein mutigerer organisierter Widerstand gegen Brasiliens Herrschaft der Reichen ist möglicherwiese das wichtigste Erbe der Olympischen Spiele.

Angepriesen wurden die Spiele damit, dass sie Rio in eine sichere und saubere Stadt verwandeln, Weltklasse-Sportstätten und ein modernes Nahverkehrssystem hinterlassen würden. Ein Jahr später floriert die Gewaltkriminalität noch immer, die Guanabara-Bucht ist so verschmutzt wie eh und eh, das neue Nahverkehrsnetz ist für die Mehrheit der Bewohner zu teuer, und der Staat vernachlässigt die Favelas weiterhin.

Bedürfnisse verkannt

Die Ermittlungen im Korruptionsskandal Operation Lava Jato (Operation Autowäsche) dauern schon seit 2014 und haben ein bis ins Mark verfaultes politisches System entlarvt. Die Staatsanwaltschaft wirft Rios ehemaligem Bürgermeister Eduardo Paes vor, vier Millionen Euro dafür erhalten zu haben, "Verträge für die Olympischen Spiele begünstigt" zu haben - was der Beschuldigte zurückweist als "absurd und unwahr". Ex-Gouverneur Sergio Cabral wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt, weil er Schmiergeld in Millionenhöhe angenommen hat, einiges davon in Zusammenhang mit der Renovierung des Maracana-Stadions und der Metro-Verlängerung zum Olympiapark.

Luxus neben Favelas - das Residence Inn Marriott-HotelBild: DW/A. Purcell

"Was ist das wahre Vermächtnis? Eine Menge Geld für Erschließungs- und Bauunternehmen und für die Politiker", klagt Roberto Marinho, aus Morro da Providencia, Rios ältester Favela. "Wo gibt es grundlegende Dienstleistungen in dieser Stadt? Statt Sicherheit haben wir Chaos und die Idee sozialer Förderung ist fallengelassen worden. Das einzige Erbe sind die Millionengelder, die in die Tasche gesteckt wurden."

Als Rio de Janeiro 2008 als möglicher Olympia-Gastgeber in Erwägung gezogen wurde, kündigte die Stadt ein "Programm zur Wachstumsbeschleunigung" an, das drei der größten Favelas modernisieren sollte: Rocinha, Manguinhos and Alemao.

"Forderung Nummer eins der Bewohner von Alemao war ein Abwassersystem - sie bekamen eine Seilbahn", erinnert sich Theresa Williamson vom Interessenverband Rio On Watch. "Forderung Nummer eins der Bewohner von Manguinhos war ein Abwassersystem - sie bekamen eine Bücherei und Sozialwohnungen. Auch in Rochina wollten sie ein Abwassersystem - bekommen haben sie eine Sportanlage, eine Fußgängerbrücke und ein paar Sozialwohnungen. Die wirklichen Bedürfnisse waren eigentlich klar."

Stillstand: Die Seilbahn von AlemaoBild: DW/C. Richardson

Im Januar hat Rios Rechnungshof die Bauunternehmer beschuldigt, 59 Millionen Euro zu viel berechnet zu haben. Die Seilbahn in Alemao ist seit zehn Monaten außer Betrieb und wird vielleicht nie wieder fahren, weil sich der Bundesstaat die 700.000 Euro monatlicher Betriebskosten nicht leisten kann.

Selbstbewusste Zivilgesellschaft 

Julia Michaels, eine US-amerikanische Journalistin, die seit 35 Jahren in Rio lebt und ein Buch über die Stadt geschrieben hat, kennt Alemao gut. Sie ist beeindruckt davon, wie die Bewohner auf gebrochene Versprechen und eskalierende Polizeigewalt reagieren. "Die Armen haben ihren Blick auf sich selber verändert", sagt sie. "Der Boom rund um Olympia hat sie selbstbewusster gemacht. Sie lassen sich nicht mehr so leicht beiseiteschieben wie vorher. Es wird interessant zu sehen sein, welche Konsequenzen das haben wird. Der Frust wächst, weil die Kluft zwischen ihren Erwartungen und der Realität nun um so größer ist."

Im April mündete eine Protestwelle gegen das Sparprogramm der Regierung von Präsident Michael Temer in einen eintägigen Generalstreik. Am 24. Mai gingen in Brasilia zehntausende Menschen auf die Straße, um Temers Absetzung zu fordern. Eine Minderheit von ihnen drang in Ministerien ein und verwüstete sie. Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten setzte der Präsident die Armee ein, um die Ordnung wiederherzustellen

Brasiliens Wirtschaft erlebt seit drei Jahren eine Rezession - neben der Korruption ist dafür auch der Verfall des Ölpreises verantwortlich. In Rio haben Lehrer, Angestellte in den Krankenhäusern und Mitarbeiter der Zivilpolizei seit Monaten kein Gehalt bekommen. Die nächsten gewaltsamen Unruhen könnten bald bevorstehen. "Es braut sich etwas zusammen", glaubt Julia Michaels. "Fast alles könnte den Funken zünden."

Theresa Williamson stimmt zu: "Das positive Erbe der Olympischen Spiele ist keines, das beabsichtigt war. Die Zivilgesellschaft hat sich vernetzt und ist bewusster geworden. Die Menschen in den Favelas sind wütend."

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