1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Dayton-Reform oder endlose Agonie

5. April 2022

Immer wieder drohen Separatisten mit der Zerstörung Bosnien und Herzegowinas. Was der kleine Westbalkanstaat im Kampf gegen sie braucht, sind Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand und eine baldige EU-Integration.

Bosnien und Herzegowina | Ewige Flamme in Sarajevo
Die "Ewige Flamme" im Zentrum der bosnischen Hauptstadt Sarajevo Bild: Amel Emric/AP/picture alliance

Jedes Jahr am 6. April begehen die Bürgerinnen und Bürger der bosnischen Hauptstadt den "Tag der Stadt Sarajevo". Er steht für die Befreiung von der deutschen Besatzung 1945 - und für den Beginn der Belagerung durch Truppen der bosnischen Serben 1992. Tags zuvor hatte das bosnische Parlament das bisher zum kommunistischen Jugoslawien gehörende Land für unabhängig erklärt. 

An diesem 5. April 1992 hatten in Sarajevo zudem mehr als 100.000 Menschen für den Frieden demonstriert - bis aus dem Sitz der serbischen Nationalistenpartei heraus auf die Demonstranten geschossen wurde. Die Kugeln töteten zwei Frauen: die ersten Opfer des Bosnienkrieges. Tags darauf begann die bis dahin jugoslawische Armee, die nun von serbischen Nationalisten kontrolliert wurde, mit der Belagerung Sarajevos. Sie sollte 1425 Tage dauern und 11.541 Menschen das Leben kosten. 

Zu diesem Zeitpunkt glaubten die meisten Bosnier - unabhängig davon, ob sie zu den rund 44 Prozent muslimischer Bosniaken, den 17 Prozent katholischer Kroaten, den 31 Prozent orthodoxer Serben oder zu den zahlreichen nationalen Minderheiten unter den damals knapp 4,4 Millionen Einwohnern des kleinen Westbalkanstaats gehörten - nicht, dass es zum Krieg kommen würde. Sie hatten gute Gründe: Ein Drittel aller Ehen im Land war national gemischt, infolge der Industrialisierung waren viele Arbeitsmigranten aus anderen Teilen Jugoslawiens eingewandert; trotzdem war es in den Jahrzehnten zuvor nie zu Konflikten gekommen. 

Aber es herrschte längst Streit darüber, wie es mit Bosnien weitergehen sollte. Am 1. März 1992 hatten 99,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler bei einem Referendum für die Unabhängigkeit von Jugoslawien gestimmt. Doch die Wahlbeteiligung lag nur bei 63,4 Prozent, da die meisten bosnischen Serben das Referendum boykottierten. Der Großteil der serbischen Abgeordneten hatte das gemeinsame bosnische Parlament schon Ende 1991 verlassen und am 9. Januar 1992 einen eigenen Para-Staat gegründet, die "Republika Srpska" (Serbische Republik, RS). 

"Ethnische Säuberung"

Anfang April 1992 begannen die serbischen Nationalisten mit der brutalen "ethnischen Säuberung" der von ihren Truppen kontrollierten Teile Bosniens. Ziel war nicht nur die Zerschlagung der nicht-serbischen Eliten, sondern jeglicher Opposition und Zivilgesellschaft - und der Zusammenschluss mit dem benachbarten Serbien. 1993 griffen zudem bewaffnete bosnisch-kroatische Nationalisten ihre bisherigen bosniakischen Verbündeten an. Sie forderten eine Vereinigung mit dem benachbarten Kroatien. Dieser "Krieg im Krieg" sollte über ein Jahr dauern. 

Einwohner Sarajevos fliehen im Dezember 1994 vor Scharfschützen der Armee der bosnischen SerbenBild: picture-alliance/ dpa

Wer kämpfte in Bosnien gegen wen? Nicht etwa Völker gegen Völker, sondern zum Nationalismus konvertierte ex-kommunistische Funktionäre, Geheimdienstler und Militärs gegen eine Bevölkerung, deren Mehrheit nach allen Meinungsumfragen Demokratie, Rechtsstaat und Wohlstand wie im Westen Europas einforderte. Das aber hätte das Ende der Herrschaft der damaligen Eliten bedeutet und musste deshalb mit allen Mitteln verhindert werden.

Internationale Bemühungen

Doch die internationalen Vermittler, die sich seit 1991 in den Krieg im zerfallenden Jugoslawien einschalteten - allen voran die Vereinten Nationen (UN) und die Europäische Gemeinschaft (EG), die Vorläuferorganisation der heutigen EU -, versuchten zwischen schwer bewaffneten Angreifern und fast wehrlosen Angegriffenen zu vermitteln, als handle es sich um einen Konflikt zwischen gleich starken Parteien.

UN-Blauhelme während eines Granatenangriffs der Armee bosnischen Serben im August 1992Bild: AP

Eine Folge dieser Fehleinschätzung war die Entsendung der leicht bewaffneten UN-Truppe UNPROFOR zur Friedensicherung in ein Gebiet, in dem bereits Krieg herrschte. Die Blauhelme konnten nicht nur keinen der ungezählten "Waffenstillstände" der folgenden dreieinhalb Jahre durchsetzen; sie versagten auch in der UN-"Schutzzone" Srebrenica, wo serbische Bewaffnete im Juli 1995 mehr als 8000 bosniakische Jungen und Männer ermordeten.

Von Srebrenica nach Dayton

Erst der Völkermord und serbische Angriffe auf UNPROFOR-Angehörige führten dazu, dass die Internationale Gemeinschaft Ende 1995 endlich den Dayton-Friedensvertrag inklusive einer neuen Verfassung erzwang. Bosnien blieb laut dem nach dem Ort der Verhandlungen, der US-Luftwaffenbasis in Dayton/Ohio, benannten Vereinbarung zwar ein Staat, wurde aber in zwei "Entitäten" - die RS und die "Föderation Bosnien und Herzegowina", die wiederum in zehn Kantone aufgeteilt ist - sowie eine Sonderverwaltungszone aufgeteilt: eine der kompliziertesten Staatskonstruktionen der Welt mit einem unübersehbaren Wirrwar an Ministerien und Kompetenzen.

Die Einhaltung des Friedens überwacht ein "Hoher Repräsentant" (OHR) , der den im "Peace Implementation Council" (PIC) versammelten Dayton-Garantiemächten verantwortlich ist, zu denen neben mehreren europäischen Staaten, darunter Deutschland, auch die USA und Russland gehören.

Ein nicht funktionierender Staat 

Dayton war ein schlechter Kompromiss - aber der einzige, der den Krieg, durch den mehr als 100.000 Menschen getötet und über zwei Millionen vertrieben worden waren, schnell beenden konnte. Denn auch die serbische Seite hatte 1995 angesichts massiver militärischer Niederlagen gegen die mittlerweile hochprofessionelle bosnische Armee erhebliches Interesse an einem Ende der Kämpfe: Während serbische Soldaten in Srebrenica mordeten, rückten bosnische bis weit in die RS hinein vor. Ohne Dayton wäre die serbische Entität in Bosnien heute viel kleiner. 

 

Dragan Covic, Chef der kroatischen Nationalisten in Bosnien (l.), und sein serbisches Pendant Milorad DodikBild: Klix

Doch anstatt dankbar für das Abkommen zu sein, interpretierten die bosnisch-serbischen Führer Dayton als ihren Sieg. In den folgenden Jahren baute der RS-Präsident Milorad Dodik seinen Machtbereich immer mehr zu einem Staat im bosnischen Staat aus. Aber weder die RS noch der Rest Bosniens entwickelten sich positiv im Sinne ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Heute hat das Westbalkanland gerade noch 3,2 Millionen Einwohner. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Löhne sind niedrig, die Bevölkerung ist überaltert, die Lebenserwartung sinkt immer weiter und die Jugend wandert aus. Die Politik dominieren weiter ex-kommunistische Nationalisten wie Dodik oder der bosnisch-kroatische Politiker Dragan Covic, denen Opposition und zivilgesellschaftliche Organisationen wie Transparency International Korruption, Klientelismus sowie Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte vorwerfen.

Die Rolle Putin-Russlands

Die Politik der nationalen Führer prägen aggressive Rhetorik, ständige Obstruktion des politischen Betriebs und regelmäßige Abspaltungsdrohungen. Unterstützt werden vor allem die serbischen Nationalisten dabei seit Jahren von Putin-Russland, das so versucht, die Westbalkan-Politik der EU und der USA zu destabilisieren. 

 

Milorad Dodik besucht im September 2018 Russlands Präsident Wladimir Putin in Sotschi Bild: Reuters/Sputnik/Mikhail Klimentyev/Kremlin

Ein Auseinanderbrechen Bosniens ist trotzdem unwahrscheinlich - denn die Machthaber dort leben von den internationalen Subventionen, die den gemeinsamen Staat am Leben erhalten. Zudem ist fraglich, ob die Regierungen Serbiens und Kroatiens wirklich eine Vereinigung mit den Serben und Kroaten in Bosnien wollen, die die innenpolitischen Verhältnisse in ihren Ländern grundsätzlich verändern würde. 

Was Bosnien braucht

Sollten die Verbal-Separatisten in Bosnien trotzdem versuchen, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen, dürfte ihr Aufstand nicht lange dauern: Die nächste russische Kaserne ist weit, in Bosnien selbst stehen über 1000 NATO-Soldaten der Schutztruppe EUFOR - und tausende mehr in allen Nachbarländern außer Serbien. 

Was Bosnien tatsächlich droht, ist eine endlose Verlängerung der Agonie, die seit Ende des Krieges herrscht. Um das zu verhindern, müssen PIC und OHR zu funktionsfähigen Institutionen umgebaut werden, zu deren Mandat eine Dayton-Reform gehört. Das geht nur ohne Moskau, das offensichtlich keinen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat Bosnien will. Zudem braucht Bosnien eine klare EU-Perspektive. Und Wirtschaftshilfen, die den Lebensstandard der Bevölkerung erhöhen.

Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand und EU-Integration - das sind die wirksamsten Instrumente, die Demokratien gegen die Herrschaft von mächtigen Cliquen in postkommunistischen Staaten in Stellung bringen können. In Bosnien genauso wie in Belarus oder Russland.