DDR-Architektur: Versprechen an die Zukunft
8. Oktober 2019Wenn Ben Kaden über die - noch als Stalinallee gebaute - Berliner Karl-Marx-Allee schlendert, vorbei am futuristisch anmutenden Kino International bis zum Alexanderplatz mit dem alles überragenden Fernsehturm, dann feiert er das repräsentative Zentrum der einstigen DDR-Hauptstadt als "Paradebeispiel der Ostmoderne". Und wenn Steine sprechen könnten, hätten sie viel zu erzählen - vom Wiederaufbau nach dem Krieg, vom architektonischen Ringen mit dem Klassenfeind, von Arbeiterpalästen und beliebten Wohnsiedlungen bis hin zu der Frage, was die DDR-Bauten heute gelten - 30 Jahre nach dem Untergang der Deutschen Demokratischen Republik.
Ben Kaden ist in der DDR geboren und hat kürzlich die Texte zu einem Bildband des Fotografen Hans Engels geschrieben – über "DDR-Architektur". Das im Münchener Prestel-Verlag erschienene Buch ist eine Liebeserklärung an Bauten des verflossenen Ost-Staates. Und doch "polarisiert es Bürger wie politische Entscheidungsträger bis heute", schreibt darin der Architekturkritiker Frank Peter Jäger, "wenn der Wert solcher Gebäude infrage gestellt wird." Wohl jeder kennt den prominentesten Zankapfel: der Palast der Republik am einstigen Marx-Engels-Platz (ab 1994: Lustgarten und Schloßplatz) musste dem wiederaufgebauten Stadtschloss weichen.
Für "extrem unsensibel und auch ökonomisch nicht sinnvoll", hält Ben Kaden noch heute die Entscheidung des Bundestages von 2003. Man habe den Stadtraum "nicht nach vorne entwickelt", sondern versucht, einen Zustand vor der DDR herzustellen. "Das ist natürlich ein Affront!" So etwas wecke bei vielen Menschen die Erinnerung an die Fremdbestimmung in der DDR: Irgendeine Elite - in der DDR das ZK der SED, heute Investoren und politische Akteure - entscheide über ihre unmittelbare Lebensumwelt. "Deshalb ziehen manche diese sonderbare Parallele, die natürlich nicht haltbar ist – das ist jetzt die neue DDR."
DDR-Baugeschichte in fünf Etappen
Was aber kann schön und erhaltenswert sein am baulichen Erbe einer Diktatur? "Baukunst folgt nicht unbedingt politischer Ethik", argumentiert Jäger. So vielschichtig die gelebte Wirklichkeit in der DDR, so verschiedenartig sei auch ihr Bauschaffen gewesen. "Auch die Motive und individuellen Freiheiten der Architekten waren höchst unterschiedlich." Gleiches gilt für die Gebäude zu jener Zeit, die sich weder in ihrer Form und Funktion noch in ihrer politischen Botschaft auf einen Punkt bringen lassen, und die man in fünf verschiedene Baustile unterteilen kann.
So steht nach dem Krieg der Wiederaufbau (1946-1950) ganz oben auf der Tagesordnung. Viele Entscheidungen in der sowjetisch besetzen Zone trifft die sowjetische Militäradministration, darunter aus Propagandagründen der Wiederaufbau der völlig zerbombten Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Den wenigsten ist bewusst, dass das für die deutschsprachige Theaterlandschaft so wichtige Theater im wesentlichen ein Nachkriegsbau ist.
Bruch mit der Moderne
Es folgt mit der "Nationalen Bautradition" (1951-1957) eine der beiden Hauptepochen der DDR-Architektur. Noch in der Stalin-Ära wachsen DDR-weit historistische Prunkbauten in die Höhe, erkennbar an ihrem typischen Zuckerbäckerstil irgendwo zwischen - sowjetisch geprägtem - Neobarock und Neoklassizismus. Als Musterbeispiel gelten die Stalinallee in Berlin, erster Bauabschnitt, die Lange Straße in Rostock, der Roßplatz in Leipzig oder auch der Altmarkt in Dresden. "Paläste des Sozialismus, in der Formensprache bewusst konservativ", sagt Ben Kaden, "und ein klarer Bruch mit der Moderne".
Vier Jahre gehen ins Land, bis das politische Tauwetter nach Stalins Tod auch das Bauen der DDR erreicht. So gewinnen die DDR-Architekten seit 1957 wieder Anschluss an die internationale Moderne. Eine "Ostmoderne" entsteht. Bestes Beispiel: Die Karl-Marx-Allee, Bauabschnitt II, zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz. Anfang der 1970er-Jahre dann nimmt ein Trend richtig Fahrt auf - immer häufiger verbaut man jetzt vorgefertigte Betonmodule. Große Blockbauten entstehen, die noch heute das Stadtbild prägen, etwa am Berliner Alexanderplatz.
Schließlich perfektioniert die DDR das industrielle Bauen in ihrer letzten Phase vor der Wende. Zugleich besinnen sich die DDR-Oberen in der Staats- und Parteiführung der alten Stadtkerne: In Plattenbauweise werden jetzt, etwa am Berliner Nikolaiviertel oder Gendarmenmarkt, historische Fassaden nachgebaut. Die Ost-Variante des Historismus ist noch heute zu besichtigen, etwa in Gestalt des Friedrichstadtpalastes, der größten Theaterbühne der Welt.
Der schlechte Ruf der Platte
Plattenbauten machen sich DDR-weit breit – und erfreuen sich größter Beliebtheit. "Die Typenbauweise hat sich massenhaft durchgesetzt", erinnert Kaden. Auch Westdeutschland experimentierte im Sozialen Wohnungsbau mit Plattenbauten. "Daher kommt diese Stigmatisierung der Platte", glaubt Kaden, die man nach der Wende 1990 "eins zu eins" auf die DDR übertragen habe. "Doch die westdeutsche Perspektive hat nicht realisiert, dass das im Osten die gängige Bauweise war. In diesen Plattenbauviertel wie Marzahn oder anderswo lebten zur Wendezeit nicht die armen Leute oder die Sozialfälle, sondern die gesamte Bevölkerung!"
Viele DDR-Bauten zeugen noch heute von der politischen Botschaft ihrer Auftraggeber: "Es ging darum, den Sozialismus auch nach außen sichtbar zu machen - als überlegenes System", weiß Kaden. Zudem war die Wohnungsfrage eng mit dem Schicksal des Landes verknüpft. "Da war der industrielle Wohnungsbau die einzige Möglichkeit für die DDR, das Problem anzugehen, also viele Wohnungen in kurzer Zeit zu errichten." Der Sieg des Sozialismus sollte sich in den Palästen der Arbeiterklasse wiederspiegeln. Das aber funktionierte nicht auf Knopfdruck: "Deshalb hat man Potemkinsche Dörfer wie die Stalinallee errichtet, als ein Versprechen auf die Zukunft." Die DDR, vor 70 Jahren gegründet und vor 30 Jahren aufgelöst, hat sie nicht mehr einlösen können.