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Das Spiel ihres Lebens

Daniel Pelz, z.Zt. Güstrow8. Juni 2016

Um Kriegswirren in ihrer Heimat zu entgehen, wuchsen 400 Kinder aus Namibia in DDR-Heimen auf. Ihre Geschichte bringt das Theater Osnabrück auf die Bühne - vor Zeitzeugen an einem besonderen Ort. Daniel Pelz war dabei.

Schauspieler recken die rechte Faust in die Höhe.
Bild: Theater Osnabrück/U.Lewandowski

Auf der Bühne: das Spiel ihres Lebens. Sechs Jahre, im Zeitraffer von einer Stunde und 45 Minuten zusammengefasst. Im Zuschauerraum: Monica Nambelela, 37 Jahre alt. Im Krieg im damaligen Südwestafrika geboren, in der DDR aufgewachsen, später zurückgekehrt nach Namibia. Sie bezeichnet sich als "DDR-Kind". Bis heute. "Man hat diesen Moment, wo die Emotionen wieder hochkommen. Einerseits bejubelt man die, die ihr Schicksal gemeistert haben. Andererseits gedenkt man derer, für die es so brutal war, dass sie es nicht ausgehalten haben und abgerutscht sind", sagt Monica. Ihre sanfte Stimme wird leiser und ihre dunklen Augen, die den Blick des Gegenübers sonst halten, wandern im Raum umher.

Das Spiel ihres Lebens, fünfte Vorstellung. Eine besondere: Im Theater Güstrow, 20 Autominuten vom Jagdschloß Bellin entfernt. Deutschlands Nordosten, zwischen glasklaren Seen und grünen Wäldern: Hier wuchsen sie und die anderen Kinder auf.

Auf der Bühne: Schüsse dröhnen aus den Lautsprechern, im blitzenden Scheinwerfer-Licht sinken die Schauspieler auf den Boden. Es ist der 4. Mai 1978. Südafrikanische Militärs greifen das Flüchtlingslager Cassinga in Angola an. Tausende Namibier waren dorthin geflohen. Denn in ihrer Heimat kämpfte die Rebellenarmee SWAPO für die Unabhängigkeit der damaligen südafrikanischen Kolonie.

Tanz im Schnee

Nach dem Angriff schließen die sozialistische SWAPO und die DDR-Regierung einen Pakt: Rund 400 Kinder von SWAPO-Kämpfern werden in die DDR ausgeflogen. Die ersten kommen 1979 ins winterlich verschneite Bellin, Monica Nambelela folgt fünf Jahre später.
Auf der Bühne wird ihre Vergangenheit wieder lebendig. Rote Trainingsanzüge für die Mädchen, blaue für die Jungen. Ausgelassen tanzen sie durch Papierschnee. Sie haben das Paradies erreicht - scheinbar. "Als Kind musst du das erst mal verarbeiten: Du kommst aus dem Flüchtlingslager und weißt nie, wann du deine nächste Mahlzeit bekommst. Dann sitzt du an einem Tisch und da ist so viel Essen", erinnert sich Monica. "Es hat eine Zeit gedauert, bis man verstanden hat: Oh, das gibt es morgen immer noch."

Sabrina Kaulinge neben Monica Nambebela und ihrer Tochter Shakira (v.l.n.r.) vor dem Theater in GüstrowBild: DW/D.Pelz

Das Publikum schaut zu, wie das Paradies Schattenseiten bekommt. Betten machen, Schuhe säubern, Zähne putzen. Die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit beginnt mit dem Erlernen der Körperhygiene - manchmal mit Gewalt. Einige Erzieher sollen die Kinder brutal geschlagen haben. Auf den Trainingsanzug folgt die Pionieruniform, auf das Spielen im Wald der Fahnenappell. Ständig wird irgendwo "Lang lebe die SWAPO" oder "Unabhängigkeit oder Tod" gebrüllt.

Künftige Elite Namibias

Oben auf dem Rang: Marie Senf, Dramaturgin am Theater Osnabrück. "Diese Kinder waren ein Projekt", sagt Senf. Ihr Stück "Oshi-Deutsch - die DDR-Kinder von Namibia" auch. Oshi-Deutsch ist die Kunstsprache der ehemaligen Heimkinder - eine Mischung aus Oshivambo und Deutsch. Die Theatermacher aus Osnabrück und Windhuk haben Zeitzeugen interviewt: ehemalige Kinder, Erzieher und Mitarbeiter der Heime. Alles, was auf der Bühne gesagt wird, stammt aus Interviews, Reden oder Protokollen. Zusätzlichen Text gibt es nicht.

"Es ging um eine Ausbildung als künftige Elite Namibias", sagt Senf. "Ich glaube, dass die Erzieher sich oft auch mit viel Liebe um die Kinder gekümmert haben, aber letztlich hatten die Kinder einen Zweck."

Auf der Bühne - das Spiel auch ihres Lebens: Irmgard Kaltofen, 81 Jahre alt, rote Bluse, freundliches Lächeln, achtungsgebietender Blick. Zehn Jahre war sie Erzieherin und Lehrerin im Schloss Bellin. Jetzt sitzt sie im Publikum. "Es ging mir durch und durch", erzählt sie nach der Vorstellung. Ein Großteil des Lebens im Schloss stelle das Stück richtig dar, sagt sie. Aber nicht alles. "Wer das heute zum ersten Mal sieht, der wird sich ja denken: Was war denn in dem Heim los? Manche Dinge waren wirklich nicht der Fall", sagt Kaltofen.

Das Jagdschloss Bellin war zu DDR-Zeiten Heim für Kinder aus NamibiaBild: picture-alliance/dpa/B.Wüstneck

Die Geschichte lässt sie nicht los

Immer wieder spielen ihre Hände mit dem Träger der Handtasche. Vieles lässt sie nicht los. Die Erzieherin zum Beispiel, die Kinder brutal geschlagen haben soll. Irmgard Kalthofen hat davon erst durch das Theaterstück erfahren. "Ich werde die ganze Nacht an sie denken. Das war eine ganz korrekte Erzieherin, die totale Disziplin in ihrer Gruppe hatte. Aber wir haben nicht geahnt, wodurch die möglicherweise zu Stande kam", sagt Irmgard Kaltofen. Das Stück wirft Fragen auf. Auch bei ihr. Irgendwann werde sie die früheren Kinder fragen, zu denen sie noch Kontakt hat, sagt Irmgard Kaltofen.

Auf der Bühne: Die Wende. Symbolisch packen die Kinder ihre Koffer. Die Pionieruniformen weichen Jeansjacken. Innerhalb von drei Wochen musste das Heim 1990 schließen. Die DDR stand vor der Vereinigung mit der Bundesrepublik, Namibia war unabhängig, der Sozialismus zusammengebrochen. Die Kinder, das Projekt: In der neuen politischen Großwetterlage plötzlich nicht mehr wichtig. Im Flugzeug ging es zurück in die Heimat, die keine mehr war.

Zurück in die fremde Heimat

Wir sind damit aufgewachsen, dass jeder sein Brötchen mit Belag hat. Plötzlich bist du auf dem Dorf, deine Eltern haben nichts, manche Kinder haben sogar ihre deutsche Sprache verlernt", sagt Monica Nambelela. "Die Eltern einer Freundin von mir waren Politiker, sie konnten sich Brot und Butter leisten. Bei uns gab es nur Hirsebrei". Manche Kinder landen im Auffanglager oder kommen in Pflegefamilien. Ihre Eltern sind tot, können nicht gefunden werden oder lehnen sie ab.

Auf der Bühne: Das Spiel des Lebens ihrer Eltern. Auf der Bühne: Sabrina Kaulinge, 18 Jahre, Schülerin aus Swakopmund, Namibia. Sie spielt eines der namibischen Heimkinder. Ihre Eltern waren beide in der DDR. "Ich kann mir das gar nicht vorstellen, in ein Land zu müssen, das ich gar nicht kenne. Ohne zu wissen, wer mich abholen wird oder wo ich am Ende bleibe", erzählt Sabrina. Über ihre Kindheit haben die Eltern mit ihr nie gesprochen. "Ich bin sehr froh, dass meine Eltern stark waren, dass ein Elternteil von mir immer weitermacht, sich nicht unterkriegen lässt, nach allem, was sie hinter sich haben", sagt sie, während sie mit der rechten Hand an ihren Rastalocken spielt. Ihre Mutter ist gestorben.

Das Theaterstück ist in Deutschland und Namibia zu sehenBild: Theater Osnabrück/U.Lewandowski

Keine endgültige Aussage

Auf der Bühne: Das Spiel des Lebens von Monica Nambelela, Irmgard Kaltofen, der Eltern von Sabrina Kaulinge ist zu Ende. Das Theater leert sich. "Wir können keine endgültige Aussage treffen. War es ein gutes oder ein schlechtes Projekt?" Alles hat zwei Seiten", sagt Marie Senf, die Dramaturgin. "Die letztgültige Aussage gibt es nicht, allein schon, weil viele Menschen von damals noch leben und die Geschichten weitergehen."