Stephen Greens Liebeserklärung an "Dear Germany"
15. September 2017Es kann die Sprache sein, deretwegen man sich in ein Land verliebt, wenn sie etwas ausdrücken kann, wofür es in einer anderen kein Äquivalent gibt. "Angst, Apfelstrudel, Blitzkrieg, Doppelgänger, Götterdämmerung, Leitmotiv, Schadenfreude, Übermensch, Untermensch, Weltanschauung, Zeitgeist" - für den Ökonom und Politiker Stephen Green waren es Wörter wie diese, die ihn schon als Jugendlichen faszinierten und ihn seit seinem 14. Lebensjahr Deutsch lernen ließen. Die Musik tat ein Übriges. Brahms verführte den jungen Mann, und schon war eine lebenslange Faszination für ein Land geboren, dessen Bewohner in der gewöhnlichen britischen Vorstellung immer noch einen imaginären Stahlhelm tragen.
Der britische Bankmanager ist ordinierter Priester der anglikanischen Kirche und Mitglied des Oberhauses. Unter Cameron war Stephen Green zwei Jahre lang Handelsminister. In der Vergangenheit hat er sich mit mehreren Büchern zum Thema Geld und Moral positioniert, jetzt war Deutschland dran. Sein Buch "Dear Germany. Liebeserklärung an ein Land mit Vergangenheit", das Anfang September erschien, ist eine aktualisierte Fassung des Originals von 2014. Der englische Titel "Reluctant Meister: How Germany's Past is Shaping its European Future" klingt weit weniger romantisch und weist die inhaltliche Thematik deutlicher aus: Darf Deutschland Europa führen? Oder muss es dies sogar?
"Deutschland gehört auf die Kommandobrücke"
"Es ist ein empörendes Buch für deutsche Leser: Hier ist ein Engländer, der uns liebt", kommentierte Michael Naumann mit sanfter Ironie. Der ehemalige Staatsminister für Kultur erörterte Greens Frage nach der Rolle Deutschlands in Europa gemeinsam mit Gesprächspartnern aus den Nachbarländern Polen und Frankreich. "Für Historiker ist das Buch insofern besonders verwirrend, weil Stephen Green wirklich anfängt mit den Germanen und innerhalb von 60 Seiten über die Kyffhäuser das Dritte Reich behandelt, um schließlich in der Bundesrepublik und Europa zu landen. Alles auf vergleichsweise wenigen Seiten", fasste Naumann zusammen.
Woher kommt die Idee, dass Deutschland, das sich in seiner Rolle als friedfertiges, moralisch geläutertes Land gemütlich eingerichtet habe, wie Naumann betont, mehr Verantwortung in Europa übernehmen soll? Stephen Green weist Deutschland ohne jeden Zweifel einen Platz auf der Kommandobrücke Europas zu. "Wir hatten bisher ein ganz stabiles Führungsarrangement, ein Dreieck Deutschland - Großbritannien - Frankreich. Das ist durch die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, zerstört worden." Deutschland müsse sich nun auf der "alten Achse" zwischen Polen und Paris positionieren und mit dafür Sorge tragen, "dass sich Europa auf der Weltbühne behauptet".
Stützpfeiler oder Führungsrolle?
Der polnische Publizist Adam Krzemiński sieht für Deutschland eine Aufgabe als "Stützpfeiler" Europas. Stützpfeiler, nicht Führungsmacht. Er erinnert an die berühmte Berliner Rede des polnischen Außenministers Radosław Sikorski von 2011, in der er die besondere Verantwortung Deutschlands anmahnte: "Ihr Deutschen müsst den Libero spielen, nicht immer selber Tore schießen, aber dafür sorgen, dass die Mannschaft vernünftig spielt", fasste Krzemiński sie sinngemäß zusammen.
In seinem Heimatland stiegen die Sympathien für Deutschland als einen Stützpfeiler Europas, je nationaler die Argumentation der Regierenden werde, das hätten Umfragen ergeben: ein Paradox. Während beispielsweise die national-konservative Regierung die Frage der deutschen Kriegsreparationen unbedingt auf die europäische Agenda setzen lassen wolle, fänden fast 72 Prozent der befragten Polen, dass man sie ruhen lassen sollte. Natürlich seien es die Liberalen, die aus polnischer Sicht mehr Führung von Deutschland verlangten, nicht die national-katholischen Kräfte um Jarosław Kaczyński und seine Partei "Recht und Gerechtigkeit".
Wie kann sich Europa auf der Weltbühne behaupten?
Von welchem Europa sprechen wir? Einem Europa der Nationen, oder einem der Regionen und der großen gemeinsamen Idee? Davon hänge es ab, welche Rolle Deutschland einnehmen könne, argumentierte der Geschichtswissenschaftler Sönke Neitzel. "Wir Deutschen haben das Problem, wir sind historisch immer entweder zu groß oder zu klein für Europa." Man habe noch nie so ein gutes Gleichgewicht gefunden wie zur Zeit. "Die Deutschen haben eine Europaromantik: Wir kommen alle zusammen und bauen das gemeinsame Haus. 30 Prozent der Deutschen sagen, wir fühlen uns als Europäer. Das ist vielleicht auch eine unbewusste, und manchmal auch bewusste Flucht vor dem schlechten Gewissen, mit dieser deutschen Geschichte belastet zu sein."
Wie solle man bei all den Verbrechen der Vergangenheit eine positive Einstellung zur eigenen Nation finden? Nation sei für die meisten Deutschen noch immer ein schwer besetzter Begriff. In Europa löse sich dieses deutsche Problem auf. "Das Problem ist nur, dass alle anderen das anders sehen. Für die anderen Länder ist die Nation eine selbstverständliche Rahmung", kommentierte Ex-Kulturstaatsminister Michael Naumann. "Wir sagen: Regionalidentitäten, und dann muss Europa kommen. Wir verstehen nicht, dass die EU ein Zusammenschluss von nationalen Interessen ist. Die haben wir auch, aber wir kommunizieren sie subkutan".
Wird es eine europäische Armee geben?
Konkret wird die Frage nach Deutschlands Rolle, wenn es um die europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik geht. Nach Ansicht Naumanns gehört es zum Kern der deutschen Identität, eine friedliebende Nation zu sein. Was hielten die Briten, die Franzosen oder die Polen von einer erstarkten deutschen Armee?
"Ich persönlich bin der Meinung, dass dies notwendig ist", sagt Stephen Green. "Das wird in den nächsten zehn Jahren passieren." Auch wenn er Trump ganz und gar nicht unterstütze, in diesem Punkt habe der amerikanische Präsident recht. "Wir brauchen die NATO nach wie vor. Wir sitzen in Westeuropa und sind nicht bereit, dafür zu bezahlen. Die NATO-Mitglieder müssen ihre Versprechen erfüllen - 3 Prozent!"
Wie unpopulär diese Herausforderung angesichts der Geschichte und wie schwer sie innenpolitisch zu verkaufen sei, darauf weist der Historiker Sönke Neitzel hin. Möglicherweise könnte eine gemeinsame europäische Armee die Lösung sein. Die deutsche Gesellschaft, aber auch die Regierung scheue sich vor einer klaren Analyse. Eine gemeinsame europäische Armee sei nicht am Horizont, glaubt der französische Historiker Étienne François. Vorläufig seien kurzfristige, pragmatische Kooperationen des Militärs gefragt, etwas, was bereits oft praktiziert werde.
Der Deutschlandliebhaber Stephen Green mag das moralische Problem der Deutschen nicht recht anerkennen. Er sieht ein "Riesenpotenzial". Europa solle weit mehr als eine ökonomische Interessenvereinigung sein und von der Verschiedenheit seiner Kulturen leben. Komplementarität und Ergänzung. Davon profitierten alle Länder - und auch der Rest der Welt.
Stephen Keith Green: "Dear Germany: Liebeserklärung an ein Land mit Vergangenheit", aus dem Englischen von Michael Haupt, Konrad Theiss Verlag, September 2017, 312 Seiten
Unter der Moderation von Ex-Kulturstaatsminister Michael Naumann diskutierte Stephen Green mit dem französischen Historiker Étienne François, dem polnischen Publizisten Adam Krzemiński und dem Historiker Sönke Neitzel (Universität Potsdam) im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin.