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Glaube

Dem Rad in die Speichen fallen!

6. August 2021

„Moderne Sklaverei“ – gefühlt ist das ganz weit weg. Realität ist: Moderne Sklaverei geschieht jeden Tag in der Parallelwelt unserer sozialen Marktwirtschaft. „Moderne Sklaverei“ – gefühlt ist das ganz weit weg.

BdTD Osterräderlauf in Lüdge
Bild: picture-alliance/dpa/C. Seidel

Das Evangelium ist politisch, prophetisch, radikal. Das Prophetische ist Wesen der Christen. Propheten in der jüdisch-christlichen Tradition sind sozialkritisch, sie stellen Verhältnisse und Verhalten in Frage, leben Alternativen. So ruft im 8. Jahrhundert vor Christus der Prophet Amos als Stimme Gottes mitten in den feierlichen Tempelgottesdienst im Heiligtum Bethel hinein: „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!“ (Am 5,21-24) Da ist kein Zweifel: Ohne das Ringen um Gerechtigkeit ist jeder Gottesdienst wertlos! Es gibt keine wahre Frömmigkeit ohne Bezug zur Wirklichkeit, so bitter, wie diese sein mag. Und dies geschieht ganz wirklich in unserm Land: Die Fleischindustrie, die Paketdienste, die Kreuzfahrtindustrie, Gebäudereiniger behandeln im großen Stil Arbeitsmigranten aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn wie Maschinen, die man bei externen Dienstleistern anmietet, benutzt und nach Verschleiß austauscht: Wegwerfmenschen, Billiglöhner, Drecksarbeiter. „Die können doch froh sein…“ – wie oft habe ich das schon gehört! Durch die harte körperliche Arbeit unter ständigem Druck, noch schneller zu arbeiten, ist auch der Stärkste irgendwann physisch und psychisch am Ende. Parallelwelten sind entstanden durch die auf Abschottung angelegte Unterbringung: Bruchbuden, die zu Wuchermieten mit Werkvertragsarbeitern vollgestopft werden! Beides macht die Arbeitsmigranten in der Pandemie zur Hochrisikogruppe: die Totalerschöpfung durch übermäßige Arbeit und unmenschliche Arbeitsbedingungen und die prekäre Wohnsituation ohne Möglichkeit des Abstandhaltens und der Regeneration. „Die Rumänen haben Corona in den Betrieb getragen…“ – So werden die Opfer zu Tätern erklärt!

„Wie kann das sein, dass Menschen so behandelt werden in christlich geprägten Regionen?“, das bin ich oft gefragt worden. – Vielleicht, weil zu viele wegschauen, ihr Gesicht und ihren Namen nicht zur Verfügung stellen für eine klare Position dagegen?! Hier wäre ein deutliches Wort der Kirchen notwendig! Die kürzeste Definition von Religion lautet: „Unterbrechung“. Der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer hat einmal gesagt, es könne die Situation eintreten, in der es für die Kirchen darauf ankäme, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“. (Bonhoeffer: „Die Kirche vor der Judenfrage“, April 1933). Gott steht auf der Seite der Kleinen und Schwachen – da ist die Bibel eindeutig. Dann müssen die Kirchen genau dort stehen. Denn eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts. Dieser Dienst bedeutet, denen zu helfen, die unter die Räder geraten sind, und dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. In der Frage der Menschenwürde kann es keine Kompromisse geben. Die Warnung, sich besser nicht mit großen Kirchensteuerzahlern anzulegen, unterstellt eine völlig indiskutable Käuflichkeit der Kirche. Nicht einmal der Hinweis auf eigene „Baustellen“ im Arbeitsrecht darf die Kirchen davon abhalten, Ausbeutung und Menschenhandel konkret und fallbezogen anzuprangern. Was ist also zu tun, um Arbeitsmigrant*innen vor der Ausbeutung zu schützen?  

1) Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort!

2) Unfallschutz und Krankenversicherung im Land der Arbeit, also hier und nicht irgendwo!

3) Ortsnahe, unabhängige, kostenlose und muttersprachliche Rechtsberatung und -vertretung - bis vor Gericht!

4) Eine Arbeitskontrollbehörde, die Gesetze durchsetzt und kriminelle Strukturen zerbricht!

5) Wohnungen für die Arbeitsmigranten und ihre Familien, Wohnungen, nicht Löcher!

6) Zurück zur Stammbelegschaft! – Verbot der Werkvertrags- und Leiharbeit im Kerngeschäft!

7) Erwerb von Sprachkenntnissen – kostenlose Deutschkurse, die an Arbeitszeiten und Lebensumstände angepasst sind!

8) Echtes Bemühen um die Integration der Arbeitsmigrant*innen in unsere Gesellschaft!

 

 

Peter Kossen (Jahrgang 1968) ist katholischer Priester und Pfarrer in Lengerich im Kreis Steinfurt. Er ist Mitbegründer der „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ e. V. www.wuerde-gerechtigkeit.de , die sich für die Beratung und Stärkung von Arbeitsmigrant*innen einsetzt.