Dem Schlächter entkommen
24. Februar 2011Sie sind völlig fertig, mit den Nerven am Ende. Unter Tränen berichtet eine Tunesierin von der Flucht ihrer Familie aus Libyen. Aus Angst vor den Gaddafi-treuen Milizen seien sie abseits der Hauptstraße über Feldwege gefahren, zwei Tage lang. Manchmal hätten sie die Orientierung verloren, der Proviant war schnell weg, das Wasser wurde knapp. Sie dankt Allah, dass sie und ihre Familie wieder zuhause sind, kniet nieder und küsst die Erde.
In dem kleinen Nest Ras al-Dschadir auf tunesischer Seite herrscht Ausnahmezustand. Normalerweise regieren hier die Schmuggler, jetzt ist der tunesische Rote Halbmond gekommen, hat Zelte aufgebaut und versorgt Verletzte und vor allem total erschöpfte Flüchtlinge mit dem Notwendigsten. Auch das tunesische Fernsehen ist da und berichtet laufend.
"Die NATO soll helfen"
Horrorgeschichten machen die Runde. Schwarze und russische Söldner würden in Tripolis und anderen Städten auf Frauen und Kinder schießen. Das tunesische Fernsehen spricht von mittlerweile mehr als 3000 Toten, darunter auch Tunesier, die als Gastarbeiter im Land lebten.
Ein junger Libyer, der mit einer klaffenden Kopfwunde vor zwei Tagen kam, bittet mich zu berichten, dass sein Land jetzt sofort militärische Hilfe von außen brauche. Die NATO solle eingreifen und Gadaffis Kasernen aus der Luft beschießen. "Nur ihr könnt ein weiteres Blutbad verhindern!", sagt er.
Allein am Mittwoch (23.02.1011) sind 5000 Menschen über die Grenze nach Tunesien gekommen, der Strom reißt nicht ab, wird aber dünner. Offenbar gibt es Blockaden an der Hauptstraße auf libyscher Seite. Verlässliche Informationen sind nicht zu bekommen, bis zu den unmittelbaren Grenzposten lassen die tunesischen Offiziellen uns Handvoll Journalisten nicht vordringen.
Zwei libysche Familien, zusammengequetscht in einem großen Van, sind vergangene Nacht angekommen. Sie berichten von einem Überfall an illegalen Checkpoints außerhalb von Tripolis. All ihr Geld, Handys und Uhren seien ihnen abgenommen worden. Sie wollen jetzt weiter in das nur zwei Autostunden entfernte Djerba. Das ist die größte Ferieninsel Tunesiens. Sie wissen: Dort stehen die Hotels weitgehend leer, die Wintertouristen sind ausgeblieben wegen der Unruhen. Deutsche Reiseveranstalter beispielsweise wollen erst Anfang März wieder Flüge anbieten. Die Libyer hoffen auf Unterstützung der tunesischen Tourismusstellen. Sobald Gaddafi gestürzt sei, wolle man zurück nach Hause und sich von dort aus für die Aufnahme großzügig revanchieren.
Angst vor Massenflucht
In ganz Tunesien herrschen große Sorgen, dass via Libyen ein Flüchtlingsstrom aus Schwarzafrika nach Tunesien einsetzen könnte. "Mit ein paar Zehntausend Flüchtlingen würde man schon zurechtkommen", sagt Ahmed Turki, ein junger Arzt aus Tunis, der freiwillig an die Grenze gekommen ist, "nicht aber mit einer unkontrollierten Massenflucht". Auf der anderen Seite herrscht in Tunesien große Solidarität mit dem Freiheitskampf der Libyer. Es ist erst sechs Wochen her, dass Tunesien seinen Diktator abgeschüttelt hat.
Eigentlich mögen sie sich nicht, Tunesier und Libyer. Das im Vergleich winzige Tunesien besitzt keine Öl-Quellen, hält sich dafür aber für besser ausgebildet und überhaupt viel zivilisierter als die Vertreter der verschiedenen libyschen Stammesvölker. Die aber haben einen deutlich höheren Lebensstandard dank der Öl-Milliarden. Aber nun ist alles anders. Vielleicht, sagt Turki, der Arzt, entstehe jetzt eine ganz neue Solidarität unter den Völkern in Nordafrika. "Was ihr in Europa geschafft habt mit der Union, das können auch wir schaffen - Wohlstand und Frieden für alle."
Autor: Martin Beutler, zurzeit in Tunesien
Redaktion: Kay-Alexander Scholz