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Politik

Demirtas: Erdogan-Rivale bleibt im Knast

Aram Ekin Duran | Daniel Derya Bellut
9. Januar 2020

142 Jahre Haft drohen dem Ex-Vorsitzenden der prokurdischen HDP. Der Prozess läuft schleppend - die Verhandlungen diese Woche blieben erneut ergebnislos. Er sei unschuldig, eine "politische Geisel", beteuert Demirtas.

Selahattin Demirtas ehemaliger stellvertretender HDP Vorsitzender
Selahattin Demirtas (Archivbild)Bild: picture-alliance/Pacific Press/S. Nuhoglu

Angriff ist die beste Verteidigung. In Ankara wurde drei Tage lang im Prozess gegen Selahattin Demirtas, den ehemaligen Co-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, verhandelt - und der kurdische Spitzenpolitiker, der trotz dürftiger Beweislage seit Jahren im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne einsitzt, teilte kräftig aus. Aus der Haftanstalt per Video zugeschaltet, verwies er erneut darauf, dass er als politische Geisel festgehalten werde. Er wolle die Gelegenheit nutzen, um mit eigenen Worten auf die Anschuldigungen zu antworten, die in der Öffentlichkeit kursierten. 

Auch wenn die Verhandlung wieder ergebnislos blieb - der nächste Verhandlungstermin ist am 28. Mai -, nutzte Demirtas sie, um an ein düsteres Kapitel der türkischen Geschichte zu erinnern. In einem eindringlichen Appell mahnte er: "Es wurden 120 Menschen in den Kellern von Cizre gefangen. (…) In Cizre hat ein Massaker stattgefunden - Zivilisten, Säuglinge und Kinder kamen ums Leben (…). Wie lange will unser Land das noch verstecken?", so Demirtas. Er sei wegen Beleidigung des Präsidenten und des Ministerpräsidenten angeklagt, weil er diese Tragödie angesprochen habe.

Demirtas bezieht sich auf Kämpfe, die im Jahr 2015 zwischen dem türkischem Militär und der Kurdenpartei PKK in der ostanatolischen Stadt Cizre stattgefunden haben. Bei den Kämpfen hatten sich Zivilisten im Keller eines unter Beschuss stehenden Gebäudes verschanzt und waren dort ums Leben gekommen.

Demirtas sitzt seit über drei Jahren in Haft. Am 4. November 2016 wurde er zusammen mit neun weiteren HDP-Abgeordneten verhaftet. 33 Anklagepunkte wegen Leitung einer Terrororganisation, Terrorpropaganda und Anstachelung wurden gegen ihn erhoben; im Hauptverfahren drohen ihm 142 Jahre Haft.

Juristisches Gerangel

Zahlreiche Prozesse laufen gegen Selahattin Demirtas. Zunächst wurde er in einem Verfahren freigesprochen, unmittelbar danach aber von einem anderen Gericht rechtskräftig zu vier Jahren und acht Monaten wegen "Terrorpropaganda" verurteilt - und durfte das Gefängnis doch nicht verlassen.

Demirtas mobiliert die Massen: Der ehemalige HDP-Vorsitzende war aussichtsreicher Konkurrent Erdogans Bild: HDP

Demirtas-Anwalt Hadi Cin sagte der Deutschen Welle, dass das Vorgehen der türkischen Justiz willkürlich sei. "Bei den juristischen Verfahren gegen Demirtas oder HDP-Leute laufen die Mechanismen ganz langsam. Aber wenn ein Haftbefehl erlassen wird, dann geht plötzlich alles ganz schnell", meint Cin.

Demirtas' Anwalt glaubt, dass der türkische Staat ein besonderes Regime speziell für Demirtas und andere HDP-Abgeordnete eingerichtet habe, "ein völlig rechtswidriges Regime". Jede Rede, jede Äußerung und jedes Interview, das sein Mandant seit 2007 geführt habe, werde ihm nun zur Last gelegt. Der Prozess sei illegal, so Cin.

Für viele eine Lichtgestalt

Vor seiner Festnahme im Jahr 2016 galt der charismatische Jurist Demirtas als Nachwuchshoffnung der türkischen Politik. In den acht Jahren, in denen er den Vorsitz der pro-kurdische HDP hatte, gelang es ihm, die Partei über den Südosten der Türkei hinaus populär zu machen. Der Wahlerfolg bei den Parlamentswahlen 2015, als es der HDP gelangt, über die 10-Prozent-Hürde zu springen, ist zu einem Großteil dem damaligen Co-Vorsitzenden Demirtas zuzurechnen.

"Unter Demirtas hat die HDP so viel Zustimmung erhalten wie keine kurdische Partei zuvor. Ihm kam eine entscheidende Rolle dabei zu; ihm gelang es, die HDP-Basis zu einen und die Partei für das nicht-kurdische Milieu zu öffnen", meint Vahap Coskun - Juraprofessor an der Dicle-Universität in Diyarbakir.

Erdogan-Gegner sind überzeugt, dass Demirtas nach seiner Freilassung eine große Rolle in der türkischen Politik spielen werde. "Die alten Granden Erdogan, Kilicdaroglu oder Bahceli dominieren heute die Politik. Doch aufgrund ihres Alters neigen sich ihre Karrieren dem Ende zu. Drei Namen werden zukünftig diese Lücke ausfüllen: (der Istanbuler Bürgermeister) Imamoglu, (der ehemalige Außenminister) Babacan - und vor allem Demirtas", so Coskun.

Wahlkampf aus der Zelle heraus

Auch aus der Zelle nimmt der ehemalige HDP-Vorsitzende Einfluss auf die türkische Politik. Bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2018 kandidierte er aus der Gefängniszelle heraus - den Wahlkampf bestritt er ausschließlich über seinen Twitter-Account. Auch zwei Romane veröffentliche er während seiner Haft. 

Selahattin Demirtas, Buchautor auch im GefängnisBild: picture-alliance/dpa/HDP

Demirtas Inhaftierung stößt auf Kritik, weil es Anzeichen dafür gibt, dass die Haftbedingungen im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne nicht menschenwürdig sind. Anfang Dezember wurde bekannt, dass Demirtas trotz einer schwerer Erkrankung nicht in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Behandlung sei ihm verweigert worden, teilte Demirtas' Familie in den sozialen Netzen mit. 

Auch der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nahm sich des Falles schon an, bewertete im September 2019 den jahrelangen Aufenthalt Demirtas' in Untersuchungshaft als unrechtmäßig und forderte die Freilassung. Auch der EGMR kommt zu dem Schluss, dass Demirtas eine politische Geisel sei, die nicht aus rechtlichen Gründen, sondern aus politischen Gründen in Haft ist.

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