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Glaube

Den eigenen Weg gehen

29. Januar 2021

Wenn Jugendliche auf Abwege geraten, braucht es meist eine vertrauensvolle Beziehung, um wieder zu sich zu finden. Zu sich… und manchmal auch zurück zu dem Menschen, der wir nach Gottes Willen sein sollen.

Symbolbild Investigativer Journalismus
Bild: Imago Images/Panthermedia/A. Popov

Wie finden Menschen zu ihrem eigenen Weg? Wie kommt man zur Einsicht, dass der bisherige Weg in die Irre führt?

Das sind Fragen, mit denen Seelsorger*innen konfrontiert werden, ob sie nun christlich, jüdisch oder muslimisch geprägt sind. Denn die Frage, welcher Weg der richtige ist und welcher ein Um- oder gar Irrweg, wird meist in einer Krisensituation drängend: Wenn man spürt, dass „es“ so nicht weitergehen kann, dass er oder sie etwas ändern muss.

Menschen, die im Gefängnis einsitzen, sind diese Fragen vertraut. Den meisten ist klar, dass sie sich im Augenblick in einer Sackgasse befinden. Nur, wo ist der Ausweg? Gut, wenn dann Seelsorger*innen zur Verfügung stehen, die freundlich zuhören können und die mit dem ursprünglichen Milieu der Inhaftierten keine Berührung haben.

Mahmud* ist 18 Jahre alt, als er zu einer Jugendstrafe verurteilt wird: Er hat nicht nur verschiedene Raubtaten begangen, sondern wurde auch wegen gefährlicher Körperverletzung inhaftiert.

Als der muslimische Seelsorger ihn kennenlernt, bereut er zwar die Raubtaten, aber nicht die Gewalttat, wegen der er vor allem verurteilt wurde. Im Gegenteil, er ist sogar stolz darauf, einen Molotowcocktail geworfen zu haben, um ein Familienmitglied zu rächen. „Das ist eine Sache der Ehre“, meint Mahmud. „Wenn ich das nicht getan hätte, wäre das eine Sünde. Allah will, dass ich jeden räche, der zu meiner Familie gehört und der angegriffen wurde. Vor allem, wenn dabei Blut geflossen ist.“

 

Zwei Jahre lang führt der Gefängnisseelsorger intensive Gespräche mit Mahmud, bis der eine andere Sichtweise entwickelt, auf den Koran, auf Gott, auf sich selbst. Und dabei zugleich eine Perspektive für sich entdeckt.

Alles beginnt mit dem wöchentlichen Freitagsgebet, das der Seelsorger immer mit den Worten einleitet: „Allah, vergib mir meine Sünden. Zeig mir bitte den geraden Weg und gib mir die Kraft, ihm zu folgen.“ So wie Christen und Juden es tun, bestätigen auch die jungen Muslime das Gebet mit „Amen“ - „das sei gewiss wahr“. Mahmud hat sich schon immer für Religion interessiert, kennt viele Stellen im Koran auswendig. Schade, dass er nie gelernt hatte, sich in die Suren hineinzudenken, das Widersprüchliche zu entdecken und lebensfreundliche Lösungen zu entwickeln. So ist sein bisheriges Bild von Gott geprägt vor allem von Strafe, Verboten und Geboten. Dass Religion befreit und kräftigt, sich um inneren und äußeren Frieden müht, ist ihm fremd geblieben.

Immer wieder befragt er den Seelsorger: „Hättest Du das nicht auch so wie ich gemacht?“ Es dauert, bis er versteht: Gott hat mit seinen Geboten keinen Ehrenkodex erlassen, den man genauestens beachten muss, um Sünde und Strafe zu vermeiden. Gott ist kein rachsüchtiger Pedant. Im Gegenteil: „Wir (= Gott) statteten die Menschen mit Würde aus“, heißt es im Koran. Man kann den Begriff „Würde“ auch mit „Ehre“ übersetzen, aber das ändert nichts am Entscheidenden: Jedem Menschen ist Würde/Ehre verliehen. Sie kann ihm niemals genommen werden, da sie einen göttlichen Kern hat. Es ist für den Jugendlichen nicht leicht zu akzeptieren, dass Gott nicht Rache will, um die Ehre seiner Geschöpfe zu schützen. Und dass Rache nicht nur die Lebensmöglichkeiten anderer zerstört, sondern auch die eigenen. Denn auch Mahmud soll Gottes geliebter Diener sein, ausgestattet mit Stärke und positiver Energie für einen Weg des Friedens.

Inzwischen führt Mahmud Tagebuch, damit er festhalten kann, was er in seinem Leben erreichen will. Wenn er aus der Haft entlassen wird, möchte er als erstes ein Buch schreiben und Vorträge halten. Sein Thema wird sein: „Ich war auf dem falschen Weg - lasst mich davon erzählen, damit Ihr nicht dieselben Fehler macht.“

Ob Menschen nun zu Allah beten oder ihn wie Christen „Gott“ oder wie Juden „Ewiger“ nennen - eines ist sicher: Die Freude im Himmel ist groß über jeden, der sich auf den Weg des menschenfreundlichen Gottes begibt.

(* Name geändert)

 

Pfarrerin Marianne Ludwig, Berlin