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"Den Schrei von Oradour höre ich immer noch"

Kay-Alexander Scholz, Oradour-sur-Glane5. September 2013

Ein versöhnlicher Tag sollte es werden, ein historischer - es wurde ein tiefbewegender: Deutschlands Präsident Gauck und Frankreichs Präsident Hollande reichten einander am Ort des SS-Massakers von Oradour die Hände.

Gauck und Hollande in Oradour-sur-Glane 04.09.2013 (Foto: Reuters)
Bild: REUTERS

Viele Gartentore stehen noch. Die grau verblichenen Latten aber wurden viele Jahrzehnte lang nicht mehr bewegt - zuletzt damals, vor 69 Jahren.

Der 10. Juni 1944, kurz nach 14 Uhr. Gleich sollten eigentlich die Kinder aus der Schule kommen, ihren Müttern zurufen, was sie Neues gelernt haben, nach dem Essen fragen. Doch dazu kommt es nicht. Nie wieder. Die SS-Division "Das Reich" hat den Ort Oradour-sur-Glane erreicht und beschließt, hier ein Massaker zu begehen.

"Warum gerade hier?", fragt Bundespräsident Joachim Gauck auf seinem Rundgang durch Oradour mit Frankreichs Präsident François Hollande und Überlebenden am Mittwoch, dem zweiten Tag seines Frankreich-Besuchs. Es gab keinen Grund. Es ging nur darum, Macht und Terror zu demonstrieren.

Die SS verlangte Geiseln. Der Bürgermeister wollte sich opfern - vergeblich. Die Frauen und Kinder des Ortes wurden in die Kirche gebracht und dort bei lebendigem Leib verbrannt. Die Männer wurden in einer Scheune zusammengetrieben und erschossen. Danach durchkämmte die SS das ganze Dorf nach Zeugen, die sich versteckt hatten. Die meisten wurden gefunden und ermordet. Niemand sollte Zeugnis ablegen können. Die Häuser wurden niedergebrannt, das Dorf mit 642 Menschen vernichtet. "Oradour war nur noch ein Schrei, ich höre ihn noch heute", sagt Hollande.

Wichtiger Moment der Freundschaft

Der gemeinsame Gang der beiden Präsidenten durch die Ruinen von Oradour war wohl der Höhepunkt des dreitägigen Staatsbesuchs von Gauck in Frankreich. Das Ereignis wurde im französischen Fernsehen drei Stunden live übertragen, auch in Deutschland war das Medieninteresse enorm.

Das Grauen von Oradour - Erinnerung an deutsch-französische Geschichte

06:21

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Selbst Gauck hatte nicht mit einer so großen Anteilnahme gerechnet. Er zeigte sich bestätigt in seiner Entscheidung, diesen Ort des Schreckens als erster führender Politiker Deutschlands als Geste der Versöhnung zu besuchen. Demütig und voller Dankbarkeit sei er nach Oradour gekommen, sagte Gauck. Er verbinde seine Reise mit vielen Gefühlen, präsidialen und persönlichen. Als ein im Jahr 1940, also mitten im Krieg Geborener habe er es nach 1945 als schwere Belastung empfunden, "dass man sich als Deutscher eigentlich hassen musste". Nun im Alter könne er ein Land repräsentieren, zu dem man "Ja sagen kann". Das sei heute ein "außerordentliches Ereignis", sagte Hollande in seiner Rede in Oradour - und lobte die Würde, mit der sich Gauck und Deutschland heute der Nazi-Barbarei stellten.

Das Erbe von Oradour

Die beiden Präsidenten verstehen einander gut. Sie reden offen über die politischen Unterschiede ihres Landes. Ihre Freundschaft halte deshalb auch Meinungsverschiedenheiten aus, sagen beide. Das betrifft die Frage des richtigen Reformweges für mehr Wirtschaftswachstum, das betrifft dieser Tage vor allem auch die Diskussion über eine Reaktion auf den Giftgasangriff in Syrien. Hollande hatte den USA Frankreichs generelle Bereitschaft für einen Militärschlag gegen das Assad-Regime signalisiert. Gauck legte in Frankreich dar, dass Deutschland aus historischen und rechtlichen Gründen anders vorgehen müsse. Schon am Vortag hatte Hollande noch einmal erklärt, dass es keine Entspannung geben könne, solange Assad an der Macht ist.

"Warum gerade hier?", fragt Gauck. Eine Antwort darauf gibt es nichtBild: REUTERS

Nun in Oradour, vor den Ruinen der Geschichte, erklärte Frankreichs Präsident, warum eine Reaktion so wichtig sei. Der "Schrei aus Oradour" sei nicht nur ein Symbol, sondern Ausdruck eines Versprechens. Nämlich überall dort, wo es in der Gegenwart zu Massakern komme, den Schrei nicht zu überhören. "Was nicht hinzunehmen ist, kann man nicht hinnehmen - wir schulden das den Opfern von Oradour", sagte Hollande in fester Überzeugung.

Ein anderes Deutschland

In seinem Eintrag ins Goldene Buch auf dem Friedhof von Oradour schrieb Gauck: Er lege Zeugnis dafür ab, dass es "heute ein anderes, nämlich friedliches und solidarisches Deutschland gibt". Hier in Oradour sieht man die Angst vor den damaligen deutschen Tätern noch beim Blick in die Gesichter der wenigen Überlebenden und Zeitzeugen. Sie hat sich wohl für immer in die Augen und Gedanken geätzt.

Man versteht, wie bedeutsam die Worte Gaucks sind, gerade hier an diesem Ort und für viele Menschen überall in Frankreich. Gauck kennt das dunkle Kapitel der deutschen Nazi-Zeit aus seiner eigenen Biografie, das gibt seinen Worten besondere Überzeugungskraft und eine besondere Emotionalität, die sich auf seine Zuhörer überträgt.

Bilder mit Strahlkraft

Auch Hollande hat einen persönlichen Bezug zu den damaligen Ereignissen. Er war mehrere Jahre lang Bürgermeister in Tulle, 100 Kilometer von Oradour entfernt. Hier hatte die selbe SS-Division einen Tag zuvor 99 Männer erhängt. Hollande berichtet, wie es jährlich einen Schweigemarsch in Tulle gibt und die "Frauen Girlanden an den Balkonen aufhängen, dort, wo damals die Körper der Erhängten hingen".

Gauck und Hollande - bewegende UmarmungBild: REUTERS

Das gemeinsame Händehalten und die folgende Umarmung der Präsidenten mit einem Überlebenden werden zu den Symbolbildern dieses Tages. Später umarmen sich beide Präsidenten noch einmal - viele Sekunden lang, sich aneinander festhaltend. Es wirkt nicht wie eine inszenierte Geste.

Viele Mörder ungestraft

Oradour hat viele Wunden in Frankreich hinterlassen. Es gab unter den Tätern 14 zwangsrekrutierte Elsässer. Sie wurden nach dem Krieg zunächst verurteilt, dann stimmte das Parlament auf Druck der elsässischen Abgeordneten für eine Amnestie. 20 Gemeinden rund um Oradour traten daraufhin über viele Jahre in einen Verwaltungs-Streik gegen Anordnungen aus Paris. Hollande sprach von Jahrzehnten, die die Versöhnung gedauert habe.

Und Gauck benannte die Bitterkeit, die er mit vielen Anwesenden der feierlichen Veranstaltung teile - darüber, dass die meisten deutschen Mörder nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. "Das ist meine Bitterkeit. Ich nehme sie mit nach Deutschland und ich werde in meinem Land davon sprechen", versprach Gauck.

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