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Den Wünschen Flügel verleihen

24. Oktober 2019

Sollten die Taliban wieder an der Macht beteiligt werden, hätte die junge Generation in Afghanistan – zumal junge Frauen – wenig Gutes zu erwarten. Ein Gastbeitrag der Menschenrechtsaktivistin Shaharzad Akbar.

Artikelbild Weltzeit 4-2019: Den Wünschen Flügel verleihen | Afghanisches Robotik-Team „Afghan Dreamers“
Bild: picture alliance/AP Photo

Ich bin während des Bürgerkriegs in Afghanistan aufgewachsen. Gleichwohl haben meine Eltern meine Geschwister und mich ermutigt, Weltliteratur zu lesen, uns für Musik und Kunst zu interessieren, kritisch und fortschrittlich zu denken und unser Leben als starke und unabhängige Frauen zu leben.

Das ist natürlich auch die Vorstellung, die ich von der Zukunft meines Sohnes habe. Ich möchte, dass er in einer toleranten und globalisierten afghanischen Gesellschaft aufwächst, die den Wünschen ihrer Kinder Flügel verleiht, statt alles daran zu setzen, ihre Lebensentscheidungen mit Gewalt und Angst zu kontrollieren. Ich will auch nicht, dass er zur Schule geht voller Angst vor Explosionen und Selbstmordanschlägen.

Als Aktivistin war ich Teil der Bemühungen, das vier Jahrzehnte dauernde Blutvergießen und die Gewalt in Afghanistan zu beenden. Dazu zählt meine Teilnahme am innerafghanischen Dialog von Doha im vergangenen Juli. Als eine der Vertreterinnen der Zivilgesellschaft saß ich den Taliban ­gegenüber.

Der Krieg, der schon länger wütet, als ich lebe, hat einige meiner Freunde und Familien­mitglieder das Leben gekostet und andere, einschließlich meiner Schwestern, dazu gebracht, ins Ausland zu flüchten. Als junge Mutter möchte ich, dass die Kindheitserinnerungen meines Sohnes einmal heller sein werden, als meine es sind. Frei von brutalem Bürgerkrieg, Taliban-Herrschaft und Flucht­erfahrung.

Keine Bereitschaft zu ­ehrlichem Dialog

Trotz meiner Hoffnung auf ein Ende der Gewalt bin ich in Sorge angesichts des US-amerikanischen und internationalen Engagements in Bezug auf eine Einbindung der Taliban. Schon angesichts der Rhetorik der Taliban zu ihren Vorstellungen von der Zukunft Afghanistans. Es läuft auf ein Ergebnis hinaus, das keinen Frieden verspricht. 

In Doha habe ich die arrogante Kompromisslosigkeit der Taliban erlebt. Ihre Antworten auf berechtigte Fragen der ­afghanischen Delegation zu Frauenrechten, Regierungsführung, Wahlen, internationalen Verträgen, die Afghanistan unterzeichnet hat, und anderen Schlüsselfragen blieben vage. Sie zeigten keine Bereitschaft zu einem ernsthaften, ehrlichen Dialog – ein beunruhigendes Zeichen, was ihre Kompromissbereitschaft bei einigen dieser Schlüsselthemen in künftigen innerafghanischen Verhandlungen betrifft.

Das Fehlen konkreter Aussagen der Taliban und der USA zum Schutz der Rechte und Freiheiten der Afghanen, insbesondere der afghanischen Frauen, hat mich sehr besorgt gemacht. Wer wird von dieser Zukunft profitieren? Diejenigen, die an einem Verhandlungstisch Macht und Einfluss gewinnen, oder die mehr als 30 Millionen afghanischen Zivilisten, die seit Jahrzehnten Krieg erleben müssen?

Eine Rückkehr der Taliban an die politische Macht könnte zu erheblichen Änderungen des Regierungssystems und der Verfassung führen. Nimmt man die Herrschaft der Taliban in ihren derzeitigen Einflussbereichen als Indiz und Maßstab, könnte dies auch schwere Rückschritte bei den individuellen Rechten und Freiheiten bedeuten. Die Regierungsführung im Taliban-Stil legt den Schwerpunkt auf religiöse Polizeiarbeit und nicht auf die gleichberechtigte Bereitstellung von Dienstleistungen und Chancen, die es den Talenten und Fähigkeiten der gesamten Bevölkerung ermöglichen, sich zu entfalten.

Der schlimmste Fall wäre eine Rückkehr zu Bürgerkrieg und Chaos. Im Falle eines voreiligen Rückzugs und in Ermangelung starker Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen durch die internationale Gemeinschaft könnte sich jede der Seiten aus den Verhandlungen zurückziehen und einen militärischen Sieg anstreben.

Kompromisse akzeptieren

Ich weiß, dass meine Vision von einem friedlichen Afghanistan von meiner Erziehung und meinen persönlichen Werten bestimmt wird, die von einigen, aber nicht von allen Afghanen geteilt werden.
Ich akzeptiere, dass wir, sollten die Af­ghanen jemals die Chance haben, den Taliban gegenüberzusitzen und zu verhandeln, Kompromisse eingehen und einen Teil unserer Vision von Frieden und Freiheit aufgeben müssen, um ein Ende der Gewalt zu bewahren. Das Gleiche würde ich auch von den Taliban erwarten.

Dennoch bin ich mir einer Sache sicher: Ich werde nicht der Angst und Tyrannei nachgeben, die meine Kindheit ver­schlungen hat. Ich werde dem Beispiel meiner Eltern folgen und mein Kind großziehen, um im Geiste fortschrittlicher Werte wie Toleranz und mit unerschütterlicher Hoffnung für die Zukunft zu leben – unabhängig davon, ob diese Zukunft, die ich mir für Afghanistan vorstelle, zu meinen Lebzeiten oder erst in seiner Generation verwirklicht wird.

Bild: privat

Shaharzad Akbar ist seit Kurzem Vorsitzende der unab­hängigen afghanischen Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission, AIHRC). Mit Sorge verfolgt sie, wie die Taliban international hofiert werden. Sie nahm als Vertreterin der afghanischen Zivilgesellschaft an den Gesprächen mit den Taliban im Sommer in Doha teil. Die 32-Jährige war zuvor Stellvertreterin des Nationalen Sicherheitsrats für Frieden und Zivilschutz in der afghanischen ­Regierung. 

Bild: picture alliance/AP Photo

Afghanische Träume

„Ich werde nie aufhören, an eine bessere Zukunft für die nächste Generation von Mädchen in Afghanistan zu glauben.“ Mit 16 Jahren wurde Fatemah Qaderyan (Bildmitte) Sprecherin der „Afghan Dreamers“. Das nur aus Mädchen bestehende High-School-Robotik-Team machte 2018 weltweit Schlagzeilen: Allen Hindernissen zum Trotz nahm das Team an einem internationalen Robotik-Wettbewerb in den USA teil (Foto S. 14) und entschied diesen am Ende für sich. Qaderyan, deren Vater kurz nach ihrer Rückkehr bei einem Bombenattentat der IS-Terrormiliz getötet wurde, setzt sich weiterhin dafür ein, dass Mädchen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Ausbildung bekommen – gerade für technische Berufe. Auch um ihre Zukunft sorgt sich Shaharzad Akbar.