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Politik

Denunziation in Russland: "Vater hat mich angezeigt"

Irina Chevtayeva
13. Juni 2022

In Russland kommt es immer häufiger vor, dass Kriegsgegner bei der Polizei gemeldet werden. Die DW hat mit Russen gesprochen, die von ihren Verwandten, Freunden, Kollegen und Nachbarn verraten wurden.

Sankt Petersburg Festnahme bei Demonstration gegen Ukriane-Krieg
Festnahme in Sankt Petersburg bei Demonstration gegen Ukraine-KriegBild: Valya Egorshin/NurPhoto/picture alliance

"Zurzeit drehen viele Leute durch"

Kirill, 32, leitender IT-Systemanalytiker aus Moskau

Als die "Spezialoperation" begann, war ich entsetzt und ich verbreitete verschiedene Posts gegen den Krieg in der Ukraine. Einer meiner Verwandten, der in Wladimir Putin total verknallt ist, hat schnell darauf reagiert. Bei ihm zuhause hängt sogar ein Porträt von Putin - genau wie in Schulen und staatlichen Institutionen. Er hat mich mit allerlei Propagandavideos auf WhatsApp zugespamt, es war einfach unerträglich. Zuerst ignorierte ich das, dann widersprach ich ihm und schließlich packte ich alles ins Archiv.

Eines Tages klopfte die Polizei an meiner Tür. Sie sagte, es läge eine Anzeige gegen mich vor und ich solle mitkommen. Auf der Wache wurden mir Screenshots von meinem Instagram-Account sowie von meinem Schriftwechsel mit diesem Verwandten gezeigt. Dann fragten die Polizisten: "Ist das Ihr Verwandter?" Ich sagte: "Ja."

Im Gespräch erfuhr ich, es sei nicht das erste Mal, dass sich Angehörige über Menschen beschweren würden, die Kriegsgegner seien. Die Polizisten gaben zu, selbst Angst zu haben, in die Ukraine geschickt zu werden. Letztendlich ließen sie mich wieder gehen. Doch meine Beiträge in sozialen Netzwerken mache ich jetzt nur noch für Freunde zugänglich. Irgendwie ist mir seitdem unheimlich.

Ich habe mich nicht einmal so sehr über die Denunziation aufgeregt, sondern vielmehr darüber, dass die Menschen gar nicht bereit sind, deine Meinung zu akzeptieren, und sogar alles tun, um einen noch umzustimmen. Das ist das Schwierigste. Unter meinen Freunden und Kollegen kenne ich niemanden, der diese "Spezialoperation" unterstützt. Probleme gibt es oft mit Angehörigen, die in Behörden arbeiten, das Staatsfernsehen schauen und nur diese eine Sichtweise kennen.

Der Verwandte, der mich verraten hat, steht jetzt auf meiner schwarzen WhatsApp-Liste, aber wir kommunizieren weiterhin. Ich bin nicht jemand, der Groll hegt. Er hat einfach eine sowjetische Denkweise und empfindet Bewunderung für eine bestimmte Art von Führer. Ich rate Menschen, die so etwas erleben, menschlich zu bleiben. Zurzeit drehen viele Leute durch, aber man muss ihnen vergeben und nicht selbst so werden.

Kämpfe um Sjewjerodonezk Anfang Juni 2022Bild: Aris Messinis/AFP/Getty Images

Schon vor dem Krieg habe ich darüber nachgedacht, Russland zu verlassen. Ich habe an Serbien gedacht. Aber ich kann meine Familie nicht zurücklassen, die definitiv nicht weg will. Irgendwo tief in mir will auch ich in Russland bleiben. Es ist ein schönes Land, aber eben nicht unter diesem Regime.

"Mein Vater hat mich angezeigt"

Anna, 21, Studentin aus Moskau

Meine Tante rief mich am 10. April an und sagte, die Polizei sei zu uns gekommen und wolle mit mir sprechen. Sie reichte den Hörer weiter und der Polizist sagte mir, mein Vater habe mich angezeigt - angeblich weil ich Posts gegen den Krieg schreibe, die russische Armee diskreditiere und zur Tötung von Russen aufrufe. Ich habe verschiedene Post verfasst, aber solche Aufrufe definitiv nicht. Während der Polizist sagte, mein Vater sei betrunken, rief meine Tante im Hintergrund, er sei doch Alkoholiker.

Als ich zur Polizei kam, waren die Ermittler von meinem Vater schon ziemlich entnervt. Die Beweisgrundlage sollte sein, jemand aus Thailand habe angeblich meinen Vater angerufen und ihm von meinen Posts erzählt. Während ich auf der Wache war, schrieb er mir Messages, dass er hereingelegt worden sei. Der Abteilungsleiter ließ mich letztlich gehen. Am nächsten Tag rief mich mein Vater an, um zu fragen, wie es mir ginge. Ich sagte, nicht sehr gut, weil er mich angezeigt habe. Er antwortete: "Du wurdest doch nicht weggesperrt."

Aufgewachsen bin ich bei meiner Großmutter und meiner Tante. Meinen Vater habe ich oft besucht, als wir noch Kontakt hatten. 2014 haben wir gemeinsam Olympia aus Sotschi geschaut und auch über die Ukraine und die Maidan-Protestbewegung gesprochen. Schon damals hatte ich oppositionelle Ansichten und stritt mit meinem Vater. Er lachte aber einfach nur über meine politischen Ansichten, das war aber nicht aggressiv. 

Eine Zeit lang lebte er bei uns und nervte mich damals sehr. Mit 13 Jahren bin ich dann von zu Hause weggelaufen, weil er drohte, mir die Augen auszustechen, und die Polizei kam einfach nie. Alle Erwachsenen wollten mir nie glauben, dass er zu viel trank.

"Nein zum Krieg" - Einsamer Protest in Moskau, Februar 2022Bild: Sergei Karpukhin/TASS/picture alliance/dpa

Jetzt haben wir so eine Situation im Land: Es gibt Krieg, es passieren schreckliche Dinge, und die Menschen wollen das nicht sehen, weil es ihnen schwer fällt, es zu akzeptieren. Ich habe eh schon eine schwere Depression und jetzt wird meine persönliche Situation auch noch von der im ganzen Land überlagert. Ich fühle mich noch schlechter. Irgendwann will ich weg, aber im Moment habe ich nicht die Mittel dazu. Die Menschen in Russland sollten vorsichtiger sein, auch im Umgang mit ihren Angehörigen, denn auch sie können einen bei der Polizei anzeigen.

"Ich will nicht mehr, dass mein Kind in Russland zur Schule geht"

Ksenia, 30, ehemalige Lehrerin aus Rostow am Don

Am 28. Februar habe ich zwei Flaggen auf meinen Balkon im 16. Stock und gemalt: eine russische und eine ukrainische. Und am 2. März fing ich an, Flugblätter mit der Aufschrift "Nein zum Krieg" im Hauseingang und im Aufzug aufzukleben. Doch schon am 4. März kam die Polizei zu mir. Es hieß, Nachbarn hätten jene Flaggen gemeldet und gesagt, ich sei eine Terroristin. Die Polizisten schauten sich die Flaggen an und das war's. Danach verbreitete ich weiterhin die Flugblätter, die aber immer wieder von jemandem abgerissen wurden.

Als ich am 20. März in der Schule unterrichtete, kam die Polizei zur Direktorin. Ich musste mit zur Wache. Unsere Hausmeisterin hatte der Polizei Bilder aus den Überwachungskameras im Aufzug unseres Wohnhauses geschickt. Nach einer Verwarnung durfte ich zurück zur Schule. Dort gab man mir Papier und Stift und sagte, ich solle selbst eine Kündigung schreiben. Die Schulleiterin sagte, wenn ich so gegen den Staat eingestellt sei, dann solle ich nicht für ihn arbeiten, und die Schule sei immerhin eine staatliche Einrichtung. Seitdem lebe ich von Sozialhilfe und bin vorsichtig, mit wem ich über jene Themen spreche.

Ich will nicht in Russland bleiben und ich werde diesen Sommer etwas unternehmen, damit mein Kind nicht mehr in Russland zur Schule geht. Natürlich erkläre ich meiner Tochter, was im Land und in der Welt wirklich passiert. Früher bin ich zu Protestaktionen in unserer Stadt gegangen, damit sie eine bessere Zukunft hat. Zurzeit bin ich völlig verwirrt, ich habe keine Ersparnisse und weiß nicht, was ich tun soll.

Die Namen aller Personen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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