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Kunst

Judendeportation: von Paris nach Auschwitz

16. Juli 2022

1942 wurden während der sogenannten Razzia vom "Vel d'Hiv" fast 13.000 Juden verhaftet und in den sicheren Tod geschickt. Ein Holocaust-Museum erinnert mit Zeichnungen von Cabu an das schreckliche Ereignis.

Auf einer Zeichnung von Cabu zum Vel d'Hiv stehen Menschen dicht gedrängt in einem Bus.
In solchen Bussen wurden die Menschen zusammengepfercht und ins "Vel d'Hiv" gebrachtBild: V. Cabut

Lazare Pytkowicz ist 14 Jahre alt als die Pariser Polizei am Morgen des 16. Julis 1942 an seine Haustür hämmert. Gemeinsam mit seiner Familie wird er in einen Bus gepfercht und in das "Vélodrome d'Hiver" gebracht. In den nächsten zwei Tagen werden rund 8000 weitere Jüdinnen und Juden aus Paris und den umliegenden Gemeinden in die Radsporthalle in der Nähe des Eiffelturms verfrachtet. Die meisten von ihnen haben einen ausländischen Pass, denn noch will die französische Regierung keine gebürtigen Franzosen an die Nazis ausliefern. Die Haftbedingungen sind erbärmlich - es gibt weder Wasser noch Brot noch Toiletten. 

Lazare Pytkowicz wird schnell klar, dass das nicht gut ausgehen kann. Er wittert seine Chance zur Flucht, als es am Mittag des 16. Julis zu einem Aufstand in der Nähe des Eingangs kommt: Gegenüber der Halle befindet sich ein Lebensmittelgeschäft. Mütter, die seit dem Morgen kein Essen mehr für ihre Kinder haben, protestieren lautstark und überzeugen die Wachen, sie Milch und Wasser kaufen zu lassen. Im allgemeinen Tumult entwischt Lazare, reißt sich den gelben Stern von der Jacke und rettet sich mit ruhigen Schritten zur Metrostation "Grenelle" (seit 1949 in "Bir-Hakeim" umbenannt). Seine Eltern und seine Schwester Fajga wird er niemals wiedersehen. Sie werden im Konzentrationslager in Auschwitz ermordet - ebenso wie die Frauen, die in das Lebensmittelgeschäft geeilt und wieder ins Vélodrom zurückgekehrt waren. 

Dieses Bild zeigt eine Gedenkversammlung im Jahr 1957. Zwei Jahre später wurde das baufällige "Vel d'Hiv" abgerissen.Bild: Various sources/AFP

Vom 1. Juli bis zum 7. November 2022 erinnert das Pariser Holocaust-Museum Mémorial de la Shoah mit einer Sonderausstellung an die Ereignisse vom Juli 1942, die unter dem Namen "La Rafle du Vel d'Hiv" in die französischen Geschichtsbücher eingegangen sind. Es war die größte Massenverhaftung von Jüdinnen und Juden in Frankreich im Zweiten Weltkrieg. Insgesamt 12.884 Menschen - darunter 4000 Kinder - wurden am 16. und 17. Juli verhaftet: Die Familien wurden zunächst ins "Vel d'Hiv" gebracht, Einzelpersonen kamen direkt in Durchgangslager. In den kommenden Wochen wurden alle nach Auschwitz deportiert; die meisten von ihnen wurden in den Gaskammern ermordet. Nur einige hundert Erwachsene kehrten nach Kriegsende zurück, keines der deportierten Kinder überlebte. 

25 Jahre später schockiert ein Buch die Öffentlichkeit

Nach Kriegsende gestand man sich in Frankreich die Mitschuld am Tod dieser Menschen zunächst nicht ein. Erst das 1968 erschienene Buch "La Grande Rafle du Vel d'Hiv" der ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfer Claude Lévy und Paul Tillard verdeutlichte, welche federführende Rolle die mit Nazi-Deutschland kollaborierende Vichy-Regierung und die französische Polizei gespielt hatten.

Die Nachfrage nach dem Buch war immens. Die populäre Zeitung "Le Nouveau Candide" veröffentlichte Auszüge und bat den damals 29-jährigen Zeichner Jean Cabut, genannt Cabu, die Razzia zu illustrieren, da es nur ein einziges bekanntes Foto von ihr gibt.Es entstanden 16 schlichte aber eindrückliche Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die nun erstmals öffentlich ausgestellt werden. "Während er diese Illustrationen anfertigte, hatte er Albträume und blieb für sein ganzes Leben gezeichnet", schreibt seine Frau Véronique im Vorwort des Ausstellungskatalogs. Cabu selbst wurde bei dem islamistischen Anschlag auf die Pariser Satirezeitung Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 ermordet.

Jean Cabut alias Cabu (1938-2015)Bild: Damien Grenon/Photo12/picture alliance

Cabu zeichnet das Schicksal der Deportierten nach

Anhand der von Lévy und Tillard gesammelten Dokumente und Zeugenaussagen lässt Cabu das Schicksal des eingangs erwähnten Lazare Pytkowicz und vieler weiterer jüdischer Menschen wiederaufleben. Auf einer Zeichnung versteckt sich ein kleines Mädchen, ihre Puppe fest an sich gedrückt, in einem Hauseingang. Im Hintergrund führen mehrere bewaffnete Polizisten einen Mann ab. Auf einem anderen Bild flüchtet eine Familie über die Dächer - die Mutter mit einem Säugling im Arm, der Vater mit der Tochter an der Hand -, während eine Etage tiefer Polizisten an die Haustür trommeln.

"Das kleine Mädchen" nannte Cabu diese ZeichnungBild: V. Cabut

Die Verantwortung Frankreichs für die Razzia vom Vél d'Hiv blieb lange Zeit ein Tabuthema. Weder der ehemalige Widerstandskämpfer und spätere Präsident Charles De Gaulle noch seine unmittelbaren Nachfolger im Elysée-Palast waren bereit, die Rolle der französischen Behörden bei der Deportation anzuerkennen. Sie argumentierten, dass das Vichy-Regime nicht Frankreich repräsentiert habe. Erst 1995 bekannte sich der damalige Präsident Jacques Chirac zu der "unauslöschlichen Schuld" Frankreichs gegenüber den Opfern. "Franzosen und der französische Staat" hätten den "verbrecherischen Wahnsinn der Besatzer" unterstützt. 

Und heute?

Lazare Pytkowicz gelangt nach seiner Flucht aus dem Velodrom nach Lyon, wo er sich der Résistance anschließt. Dreimal wird er vor Kriegsende von der Gestapo verhaftet - jedes Mal kann er entkommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist er einer der Jüngsten, dem Präsident Charles de Gaulle den "Ordre de la Libération" verleiht, eine Ehrung für diejenigen, die sich im Kampf um die Befreiung Frankreichs verdient gemacht haben. Pytkowicz stirbt 2004 in Paris. 

Das "Vélodrome d'Hiver" wird 1959 abgerissen. Heute stehen Wohnhäuser und ein Gebäude des französischen Innenministeriums auf dem ehemaligen Gelände am Quai des Grenelles. Seit 1994 erinnert ein Denkmal an die furchtbaren Ereignisse von 1942. Die meisten Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben, doch Ausstellungen wie die im Pariser "Mémorial de la Shoah" halten die Erinnerung an sie am Leben. 

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat zu einer erhöhten Wachsamkeit gegen Antisemitismus aufgerufen. Antisemitismus sei immer noch in der Gesellschaft präsent und teilweise sogar weiter verbreitet als noch vor einigen Jahren, sagte Macron bei einer Gedenkfeier für die Opfer der Razzien vom Juli 1942 am früheren Bahnhof von Pithiviers, rund hundert Kilometer südlich von Paris.

An der Gedenkzeremonie für die Opfer in Pithiviers nahmen auch einige der wenigen Überlebenden teil. 

 

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