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"Deportiert vom Territorium Weißrusslands"

30. Juni 2003

- Aleksandr Lukaschenka verweist NTW-Korrespondenten des Landes

Moskau, 30.6.2003, MOSKOWSKIJ KOMSOMOLEZ, NESAWISSIMAJA GASETA, ISWESTIJA

MOSKOWSKIJ KOMSOMOLEZ, russ., 30.6.2003, Jelena Gamajun

Die Beerdigung "des nationalen Gewissens" Weißrusslands, des Schriftstellers Wassil Bykow, konnte nicht spurlos vorübergehen. Alle dachten, dass die Machthaber noch während der Trauerfeier Krach machen würden. Nein. Zum Skandal kam es nachher: der NTW-Korrespondent Pawel Selin, der aus Minsk über die Beerdigung des Schriftstellers berichtete, wird des Landes verwiesen. Das Korrespondentenbüro wird zeitweilig geschlossen.

Vor sechs Jahren hatten die Machthaber Weißrusslands bereits versucht, die Vertretungen der russischen Fernsehsender in Weißrussland "dichtzumachen". Als erster wurde der NTW-Korrespondent Aleksandr Stupnikow des Landes verwiesen, dann das ORT-Kamerateam mit Pawel Scheremet an der Spitze in ein Untersuchungsgefängnis gesteckt... Interessant ist, dass es dazu in einer Zeit kam, in der die "weitere Annäherung" in vollem Gang war – man fast schon vor hatte, den gemeinsamen Rubel einzuführen. Der grobe Umgang der weißrussischen Machtorgane mit den russischen Massenmedien hat die Beziehungen zwischen den zwei "Unionsstaaten" jedoch für lange verdorben.

Vor lediglich zwei Wochen fand eine Sitzung über die allmähliche Einführung des russischen Rubels auf dem Territorium Weißrusslands statt, Schritte für deren Umsetzung wurden angedeutet... Und erneut demonstrieren die weißrussischen Machthaber ihre unangemessene Reaktion. Man gewinnt den Eindruck, dass Aleksandr Grigorjewitsch (Lukaschenka – MD) absichtlich nach einem Anlass für einen Skandal sucht, um nicht zugeben zu müssen, dass er keine Eingeständnisse machen will, dass er alles auf das "boshafte" Russland schieben will.

Grund für die Ausweisung des NTW-Korrespondenten ist nach Angaben des Innenministeriums der Republik "die Verbreitung vorsätzlich falscher, der Wirklichkeit nicht entsprechender Information im Äther". Als solche wird die Meldung darüber bewertet, dass Vertreter der Machtorgane das Kreuz mit der weiß-rot-weißen Fahne wegräumten (Fahne des unabhängigen Weißrusslands) und die rot-grüne Fahne hissten, die Angehörigen von Wassil Bykow jedoch darauf bestanden, die oppositionelle Symbolik wieder aufzustellen. Des Weiteren geht es um die Mitteilung des Korrespondenten darüber, dass "die Machtorgane den Trauermarsch behinderten, weil sie ihn als oppositionelle Demonstration betrachteten". Selin selbst versichert, dass seine Reportage "keinen Tropfen" Lüge enthielt, dass lediglich die realen Ereignisse widerspiegelt wurden. Die NTW-Führung ist ebenfalls der Ansicht, dass der Korrespondent seiner Arbeit "korrekt und richtig" nachgekommen ist.

Die weißrussischen Machtorgane sind jedoch anderer Meinung: der Beschluss über die Ausweisung wurde gefasst. Jetzt wartet Aleksandr Lukaschenka darauf, dass sich der Sender persönlich bei ihm entschuldigt. Wir erinnern uns noch daran, dass Boris Nikolajewitsch (Jelzin - MD) vor sechs Jahren das "Unionsgefühl" außer Acht ließ und dem weißrussischen Präsident drohte: "Lass die russischen Journalisten in Ruhe." Wladimir Wladimirowitsch (Putin – MD) sah vorläufig von Äußerungen gegenüber dem "Unionspräsidenten" ab. Auch das Außenministerium Russlands äußerte vorläufig lediglich "Bedauern" über das Vorgehen von Minsk. (lr)

NESAWISSIMAJA GASETA, russ., 30.6.2003, Igor Plugatarjow

(...) Anlass für die Ausweisung des russischen Journalisten Pawel Selin aus Weißrussland ist seine letzte Reportage vom Begräbnis des Schriftstellers Wassil Bykow. Selin berichtete, dass die weißrussischen Machtorgane den Trauermarsch behinderten, weil sie ihn als oppositionelle Demonstration bewerteten. Dazu ließ er recht ausführlich den bekannten Gegner des jetzigen Regimes, das erste Oberhaupt des unabhängigen Weißrusslands, Stanislaw Schuschkewitsch, sprechen. Dieser kritisierte Aleksandr Lukaschenka recht scharf. Eine Reaktion folgte ganz schnell. Am 28. Juni wurde Selin ins Innenministerium geladen und in seinem Pass folgende Eintragung gemacht: "Deportiert vom Territorium Weißrusslands. Einreise auf das Territorium des Landes für eine Frist von fünf Jahren verboten." (...) (lr)

ISWESTIJA, russ., 30.6.2003, Bogdan Stepowoj

(...)

Frage:

Wie sieht es derzeit mit der Freiheit des Wortes in Weißrussland aus?

Pawel Selin:

Im Land findet eine Säuberung des Informationsraumes vor dem neuen Referendum über die Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten statt, von dem viel gesprochen wird, jedoch niemand weiß, wann es stattfindet. Kürzlich wurde die "Belorusskaja delowaja gaseta" sowie die bei der Jugend sehr angesehene Zeitung der weißrussischen Anarchisten "Nowinki" verboten. Die Journalisten versuchten, die "Belorusskaja delowaja gaseta" unter einem anderen Namen in Smolensk herauszugeben. Die ganze Auflage wurde jedoch an der Grenze beschlagnahmt. Es ist kein Geheimnis, dass im letzten Jahr drei weißrussische Journalisten wegen ihrer Berufstätigkeit verurteilt wurden. Der Chefredakteur der Grodnoer Zeitung "Pagonja" Nikolaj Markewitsch, der Journalist Pascha Maschajko und der Chefredakteur der Zeitung "Rabotschij" Wiktor Iwaschkewitsch wurden wegen Verletzung der Ehre und der Würde des Präsidenten zu zwei bis drei Jahren Haft verurteilt. Nikolaj Markewitsch wurde wegen einer "Tschastuschka" (kurzes Lied der russischen mündlichen Volksdichtung mit lyrischem oder aktuellem Inhalt – MD) verurteilt, die in etwa wie folgt klingt: "Ich habe dem Volk versprochen, dass die Mafia zugrunde gehen wird. Sie können mir gratulieren, jetzt stehe ich an der Spitze der Mafia."

Frage:

Wann haben sich Ihre Beziehungen zu den weißrussischen Machtorganen zugespitzt?

Antwort:

Die erste Verwarnung wurde mir im Januar letzten Jahres vom Außenministerium wegen der Reportage darüber ausgesprochen, wie der Direktor des Minsker Traktorenbetriebes Michail Leonow hinter Gitter gesteckt wurde. Ich verglich die Situation damals mit dem Stoff aus Agatha Christies "Zehn kleine Negerlein". Im Vorfeld hatte Aleksandr Lukaschenka versprochen, 15 Betriebsdirektoren wegen Diebstahls in Gefängnisse zu bringen: der erste wurde verurteilt, die anderen können nun rätseln, wer der nächste ist. Zum zweiten Mal musste ich das Außenministerium Weißrusslands im Frühjahr letzten Jahres wegen der Reportage über die Auflösung des Protestmarsches "So kann man nicht leben" und den Bericht in der Sendung "Namedni" (volkssprachlich für "neulich", "vor kurzem" – MD) über das Schicksal der weißrussischen politischen Emigranten "Beloemigranten" aufsuchen.

Frage:

Wie werden Journalisten aus Weißrussland deportiert?

Antwort:

Das Verfahren ist recht einfach. Am Donnerstag (26.6.) wurde in den weißrussischen Fernsehnachrichten ein 12minutiger Bericht darüber ausgestrahlt, wie NTW das weißrussische Volk verleumdet. Am nächsten Tag, dem Freitag (27.7.) wurde ich beim Außenministerium vorgeladen, wo ich gefragt wurde, woher ich meine Informationen habe. Das ist jedoch kein Geheimnis. (...) Unser Gespräch war lediglich eine leere Formalität: bereits vor meiner Vorladung beim Außenministerium hatte der Vorsitzende der Kommission die Ergebnisse der Ermittlungen erläutert. Ich denke, dass über mein Schicksal beim persönlichen Treffen zwischen Aleksandr Lukaschenka und Gennadij Newyglasow entschieden wurde. Am Samstag (28.6.) rief mich das Innenministerium Weißrusslands an und teilte mit, dass ein Beschluss über meine "freiwillige Deportation" innerhalb von 24 Stunden gefasst wurde. Das Innenministerium gab mein Akkreditierungsschreiben nicht mehr zurück, Oberstleutnant Lidija Iwantschikowa nahm meinen Pass und schrieb persönlich hinein: "Deportiert vom Territorium Weißrusslands. Einreise auf das Territorium des Landes für eine Frist von fünf Jahren verboten." Die Eintragung wurde mit einem Stempel versehen und ich wurde gewarnt, sollte ich das Land nicht verlassen, werde ich ausgewiesen. Wahrscheinlich wollten die mir Handschellen anlegen und mich in einen Zug setzen. Dieses Vergnügen konnte ich denen nicht bereiten und habe am gleichen Abend Fahrscheine nach Moskau gekauft. Am meisten besorgt mich das Schicksal der Mitarbeiter des Korrespondentenbüros. Der Kameramann Kostja Morosow, der Tonregisseur Dmitrij Dawydenko und der Produzent Pawel Antonow sind Bürger Weißrusslands.

Frage:

Wie wurden Sie aus Minsk verabschiedet?

Antwort:

Zum Zug kamen mindestens 50 Personen – Journalisten, Vertreter der Opposition, meine Freunde und verstärkte Milizeinheiten. (...) (lr)