Der Altmeister des Chansons
22. Mai 2014Andere in seinem Alter genießen schon lange den Ruhestand, doch Charles Aznavour kann ohne Konzertluft nicht leben. Er hat gerade eine Platte herausgebracht und komponiert eifrig an einer Broadway-Show. 30 Auftritte stehen 2014 auf seinem Terminplan. Wenn man ihn fragt, ob er es in seinem Alter nicht etwas langsamer angehen lassen will, antwortet er lächelnd: "Tue ich doch. Vorher habe ich 200 bis 250 Konzerte im Jahr gegeben."
Der Mann ist ein Arbeitstier. Über 1000 Chansons hat er im Laufe seines Lebens geschrieben, viele davon wie "La Bohème", "Hier encore", "La Mamma" oder "She" wurden zu Welthits, Interpretationen von Shirley Bassey, Ray Charles, Sammy Davis Jr., Liza Minnelli und Nina Simone inklusive. In sieben Sprachen singt Aznavour; in Deutschland hat sein "Du lässt dich geh‘n" über die schlampige Geliebte längst Kultstatus.
Der Franzose mit den vielen Talenten war auch Schauspieler. Er brillierte in Volker Schlöndorffs "Die Blechtrommel" und in François Truffauts Meisterwerk "Schießen Sie auf den Pianisten", wo er einen heruntergekommenen Barpianisten mimte. Er stand für Claude Chabrol vor der Kamera und für Atom Egoyans Werk "Ararat" über den armenischen Völkermord.
Ein Mann der offenen Worte
Aus dem Filmgeschäft zog er sich 2006 zurück, doch von der Musik kann Charles Aznavour nicht lassen. Schon mehrmals ging er auf Abschiedstourneen, die keine waren, und immer noch überzeugt er auf der Bühne mit fester Stimme und wachem Geist. Jeden Morgen geht er in den Keller seines Hauses in Lausanne und komponiert auf seinem Elektroklavier. Und er schreibt nicht nur die Liebeslieder, auf die ihn so mancher Journalist gern reduziert: Gerade hat er ein Chanson verfasst, das "Alle auf die Straße!" heißt. Wenn alles schief laufe, müsse das Volk das Wort ergreifen, findet er. So wie in Tunesien oder Ägypten.
Aznavour ist kein Ja-Sager. So ergriff er 1972 in seinem Lied "Comme ils disent" Partei für Homosexuelle - ohne selbst homosexuell zu sein. Das war damals ein absolutes Tabuthema. "Ich bin für die menschliche Würde. Wenn jemand homosexuell ist, dann ist er es halt. Ich urteile nicht über das Leben anderer", sagte er im deutschen Magazin "Stern".
Dem französischen Staatspräsidenten François Hollande erklärte er letztens bei einem gemeinsamen Mittagessen mit hohen armenischen Funktionären, er habe ihn nicht gewählt; der nahm es staatsmännisch lässig. Denn Aznavour ist längst der Vorzeigefranzose, der Exportschlager, der im Ausland die Grande Nation repräsentiert: "Wer verkörpert denn Frankreich? Die schönen Frauen, die Schauspielerinnen und ich: Sobald es etwas zu repräsentieren gibt, muss ich hin", kommentiert er selbstbewusst und mit einem Augenzwinkern.
Vom Migrantenkind zum Chansonnier
Dabei hat es am Anfang seines Lebensweges gar nicht so ausgesehen. Schahnur Waghinak Asnawurjan, so sein eigentlicher Name, kam am 22. Mai 1924 in Paris als Sohn armenischer Flüchtlinge zur Welt. Sein Vater war Sänger, seine Mutter Schauspielerin, die Muse war Charles also in die Wiege gelegt. Schon mit neun Jahren bekam er ein Bühnenengagement. Stolz spazierte er durch das Einwandererviertel seiner Kindheit: Man kannte ihn; er war der Junge, der Theater spielte. Aber er war auch das Migrantenkind, das gehänselt wurde: Er sei hässlich, hieß es, er könne sich auf der Bühne nicht bewegen, er sei der Kleinste.
Klein ist er mit 1,61 Meter Körpergröße immer noch, musikalisch wurde er zu einem der ganz Großen. Mit unbändigem Willen schaffte er es in den Olymp des Chansons. Es war die berühmte Sängerin Edith Piaf, die ihm zum Durchbruch verhalf, als sie ihn mit auf eine Tournee durch Frankreich und die USA nahm. Das war 1946. Seitdem ging es auf der Karriereleiter steil bergauf. "Ich weiß gar nicht, ob ich im klassischen Sinne ein guter Sänger bin", hat Aznavour mal gesagt. "Wichtiger als die Schönheit der Stimme ist deren Ausdruck und wie man ein Lied interpretiert, es mit Leben füllt. Ich habe immer versucht, mit meinen Liedern persönliche intime Geschichten zu erzählen."
Energiesparauto statt Glamour
Fast 100 Alben hat Charles Aznavour im Laufe seiner über 70-jährigen Karriere veröffentlicht, mit Duett-Partnern wie Placido Domingo, Elton John, Liza Minnelli, Frank Sinatra und Sting gesungen. Er erhielt zahllose Preise und Ehrungen, in den USA wurde er 1998 gar als "Entertainer des Jahrhunderts" ausgezeichnet.
Es gab eine Zeit, da hat er sein Geld zum Fenster rausgeschmissen: Er schwelgte im Luxus, fuhr Rolls Royce, liebte den Glamour. Als er 1967 die Schwedin Ulla Ingegerd Thorssell heiratete, hatte er schon zwei Ehen hinter sich. Doch mit seiner neuen Liebe wurde er glücklich: "Sie braucht keinen Glamour und keine Partys - und holt mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, falls ich zu unangemessenen künstlerischen Höhenflügen ansetze. Sie erdet mich."
Heute fährt Aznavour ein energiesparendes Auto und ist insgesamt sparsamer geworden – man müsse ja auch an die Enkel denken, findet er.
Seit 1976 lebt das Paar in der Schweiz. Frankreich habe sich keine Mühe gegeben, ihn zu halten, so Aznavour. Man warf ihm vor, er habe Steuern hinterzogen und Politiker bestochen, um das zu vertuschen. Am Ende blieb nur der Weg ins Ausland. Alles Schnee von gestern.
Engagement für Armenien
Aznavour singt wie eh und je. Und seine Prominenz nutzt er, um das Heimatland seiner Eltern zu unterstützen – finanziell, politisch und moralisch. Seine Stiftung "Aznavour for Armenia" sammelte Millionen für wohltätige Zwecke. Für so viel Engagement erhielt er vom ehemaligen französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac das Verdienstkreuz und den Titel "Kommandeur der Ehrenlegion". Im Dezember 2008 wurde Aznavour die armenische Staatsbürgerschaft verliehen, seit 2009 ist er Botschafter des Landes in der Schweiz und bei der UNICEF. In Jerewan benannte man ein Kulturzentrum nach dem Sänger.
An seinem 90. Geburtstag wird er das tun, was er am Besten kann: Singen. Und zwar in Berlin. Joyeux anniversaire, Charles, herzlichen Glückwunsch, Monsieur Aznavour!