Aufstieg der Engel
An Heiligabend sind die berühmtesten Engel der Kunstgeschichte wieder weltweit ein heiß begehrtes Motiv. Auf Weihnachtskarten und Geschenkpapier schauen die beiden pausbäckigen und geflügelten Knaben mit den dunklen Locken und den großen Augen gen Himmel. Oft kopiert, stehen sie für Kunst und Kitsch gleichermaßen.
Die wenigsten Betrachter aber wissen, dass die Himmelsknaben eigentlich zu einem der berühmtesten Gemälde der Welt gehören. "Sie ahnen nicht einmal, dass sie aus Dresden kommen", sagt der Kurator für Italienische Malerei der Gemäldegalerie Alte Meister, Andreas Henning. Hier in der Sempergalerie haben sie ihr Zuhause: am Fuße von Raffaels "Sixtinischer Madonna".
Raffael ließ sich Zeit
Das 1512/13 geschaffene Gemälde, das 1754 aus der Klosterkirche San Sisto von Piacenza an die Elbe gelangte, ist laut Henning ein Weihnachtsbild. "Es stellt die Inkarnation Christi dar, die Madonna trägt das Jesuskind zur Erde." Dies habe Raffael durch die kindlich und irdisch aussehenden Knaben am unteren Bildrand deutlich gemacht. Dabei hätte es die süßen Engelchen fast gar nicht gegeben. "Raffael hat sie erst am Schluss in dünner Malschicht auf die Wolken gemalt", weiß Henning zu berichten.
Der himmelnde Blick
50 Jahre nachdem Kurfürst August III. von Sachsen die Sixtina den Mönchen abkaufen und nach Dresden holen konnte, drängten sich schon die Kopisten um die Madonna. "Erstmals ausgekoppelt wurden die himmlischen Kinder 1803, als sie sich auf je einer Leinwand des Malers August von der Embde breitmachten", sagt Henning. Die beiden Bilder gehörten zur Ausstattung von Schloss Wilhelmshöhe in Kassel. "Ohne die Madonna wurde der auf sie gerichtete Blick der Engel zum himmelnden Blick."
Die Macht der Kopien
Die Engel wurden schnell zum Lieblingsmotiv in der Kunst, mit fortschreitender Technik aber auch der Werbeindustrie. Es begann mit zeitaufwändig hergestellten Kupferstichen, Holz- und Stahlstichen, entwickelte sich über die Lithografie und die Fotografie bis zur Gegenwart, wo sie in Sekunden per Computer beliebig gescannt und vervielfältigt werden.
Die Faszination der Engel nutzt auch die Stadt Dresden seit dem 19. Jahrhundert für Eigenwerbung. "Es gibt keinen bekannteren Werbeträger, denn die Silhouette der Dresdner Frauenkirche ist verwechselbar, die Engelchen gibt es nur ein Mal", sagt Henning. Viele Menschen staunten, wenn sie sie ausgerechnet bei der Sixtina in Dresden wiedererkennen. Die Dresdner Staatlichen Kunstsammlungen haben dennoch von den oft kopierten Engeln nichts. "Kunst ist Allgemeingut", erklärt Henning. "Wenn wir an jedem verkauften Engel verdienen würden, könnten wir das finanzieren, was wir für den Erhalt des Bildes tun." (pg)