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"Der Balkan gehört nach wie vor zu den großen Herausforderungen in Europa"

22. September 2003

– Interview mit Gernot Erler, Vorsitzender der Südosteuropa-Gesellschaft und SPD-Außenpolitiker

Bonn, 19.9.2003, DW-radio / Albanisch, Adelheid Feilcke-Tiemann

Die Südosteuropa-Gesellschaft hat in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt innerhalb der letzten zwei Jahre einen Konferenz-Zyklus zur Situation auf dem westlichen Balkan veranstaltet. Nach Konferenzen in Ohrid, Belgrad, Prishtina und Herceg Novi fand jetzt die Abschlusskonferenz in Berlin statt, in der die Erfahrungen bilanziert wurden.

Herr Erler, Sie haben als Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft (SOG) und SPD-Außenpolitiker an allen Konferenzen maßgeblich mitgewirkt. Welches sind die wichtigsten politischen Lehren aus diesem in seiner Art einzigartigen Engagement der SOG und des Auswärtigen Amtes?

Erler

: Natürlich gibt es zunächst einmal den tiefen Eindruck, dass es in der jetzigen Situation ein fataler Fehler wäre, etwa bei der jetzigen Weltpolitik sich auf andere Konflikte im Nahen Osten, in Afghanistan oder im Irak alleine zu konzentrieren. Der Balkan gehört nach wie vor zu den großen Herausforderungen für Europa, aber auch für die Weltgemeinschaft. Es wäre fatal, hier etwa das Engagement zu verringern. Und zu dieser Grunderkenntnis hat diese abschließende Konferenz über interethnische Koexistenz und Dialog eine Fülle von Einzel-Erkenntnissen gebracht, uns auch gezeigt, dass wir die Einzelstrategien für die Länder, aber auch für die Durchsetzung von einem multiethnischen kulturellen Rahmen für die Transformation in diesen Gesellschaften immer wieder im Detail überdenken müssen.

Frage:

Können Sie das spezifizieren? Was bedeutet dies beispielsweise für das Engagement im Kosovo?

Erler

: Ich denke, im Kosovo ist es vielleicht am deutlichsten, dass der Dialog, der da notwendig ist, zwischen Mehrheit und Minderheit, Albanern und Serben, aber auch der anderen Minderheiten immer noch auf sehr schwer überwindbare Schwierigkeiten stößt. Die albanische Seite konzentriert sich fast vollständig auf die Statusfrage, also auf die Endstatusfrage, und setzt alle Kraft da rein, das zu lösen und scheint immer wieder Probleme damit zu haben, wenn die Europäer ihnen eben sagen, erst die Standards, dann der Status, während die serbische Seite hier in einer historischen Umkehrung der bisherigen Erfahrungen völlig in die Opfermentalität eingetaucht ist, natürlich auch nicht zu Unrecht bei den Erfahrungen, die man dort jetzt macht oder in den vergangenen Jahren dort machen musste. Sodass in sehr deutlicher Weise diese Konferenz noch mal diese Notwendigkeit, diesen Dialog noch herzustellen, uns vermittelt hat und das bedeutet, dass die Grundsätze, mit denen Europa im Kosovo arbeitet, nämlich: Also, kein sogenannter ethnischer Swap - dass heißt: keine Umsiedlung oder Abtrennung oder Teilung - sondern eben ein Versuch über die Bürgergesellschaft, die die Chancen für alle Minderheiten garantiert weiterzukommen, nicht verlassen darf. Das muss das Prinzip sein. Aber dieser Dialog ist am allerschwierigsten im Kosovo.

Frage:

Es wurde in der Diskussion sehr vehement die These vertreten, dass dieser Dialog nur erfolgreich sein könne, wenn er als ein gemeinsames EU-USA-Projekt gestaltet werde. Wie stehen Sie zu dieser Forderung?

Antwort

: Das ist der große Unterschied zwischen dem normalen europäischen Erweiterungs- und Integrationsprozesses, die Europäer alleine leisten können, und der Nachkrisenstrategie auf dem westlichen Balkan, wo die Rolle von den Vereinten Nationen, der NATO, der OSZE, also die Rolle der EU insgesamt, zusammen mit diesen Institutionen, aber auch die Präsenz der USA unverzichtbar bleibt. Das ist der große Unterschied. Und deswegen ist die Aussage unseres amerikanischen Freundes, Dan Serwer, dass wir "Joint Enterprises" brauchen, also gemeinsame Projekte, auch wenn wir nicht immer die Philosophie teilen, immer noch sehr produktiv und sehr positiv von der Konferenz aufgenommen worden.

Frage

: Ein zweiter Konferenzschwerpunkt war Mazedonien. Gerade in den letzten Wochen hat sich gezeigt, dass die Situation dort immer noch nicht vollständig stabilisiert ist. Welches sind aus Ihrer Sicht die Erfahrungen aus der bisherigen Mazedonienpolitik und die Lehren für das zukünftige Engagement?

Antwort

: Mazedonien ist der Fall, wo die europäische Politik dann zu einer Einigkeit gefunden hat und bei der großen Gefahr von Mai 2001, als ein Bürgerkrieg gar nicht mehr verhinderbar schien, doch mit einer gemeinsamen Politik und mit einer, die auch dann zum Teil mit militärischen Mitteln, die zur Umsetzung dieser Politik angewandt wurden, Erfolg hatte. Die Basis ist das Ohrid-Abkommen, der Friedensvertrag von Ohrid, der, wie wir hören und sehen, Schritt für Schritt umgesetzt wird. Aber es gibt hier offensichtlich so eine Art Grundgefühl der Betroffenen, dass es sich hier doch mehr um eine von der Weltgemeinschaft eher oktroyierte Lösung handelt. Die Internationalisierung, das Anerkennen, dass es keine Alternative zur Beseitigung von Exklusion gibt (Exklusion war der wichtigste Hintergrund für die Unzufriedenheit der albanischen Bevölkerungsgruppe. Und deswegen kam ja erst die Bürgerkriegsgefahr, nachdem einige militante Kräfte militärische Maßnahmen ergriffen hatten). Dass dieser Prozess weiter fortgeführt werden muss, und hier ist eine Menge Arbeit von der internationalen Gemeinschaft zu leisten und natürlich speziell für Europa, das wahrscheinlich mehr Aufgaben auch in Zukunft - weil andere sich zurückziehen - hier übernehmen muss, dass die Umsetzung von Ohrid zwar Fortschritte macht, dass sie aber noch nicht als positiv bei den Betroffenen angekommen ist, - und zwar von beiden Seiten.

Frage

: Hier sprechen wir von einem Prozess von gerade zwei Jahren. In Bosnien, das dritter Schwerpunkt der Konferenz war, sind mittlerweile acht Jahre seit Dayton ins Land gezogen, ohne dass eine Fülle von grundsätzlichen Problemen beseitigt sind, Stichwort ethnische Trennung. Welche Lehren kann man dort aus dem internationalen Engagement ziehen?

Antwort

: Selbstverständlich muss man fairer Weise auch hier sagen: das Dayton-Abkommen hat den blutigsten, verlustreichsten Krieg beendet. Und das war sein Hauptzweck. Damals gab es über 300 000 Tote und über eine Million Flüchtlinge. Und mehrere Jahre hat dieser Krieg gedauert. Und erst nach einer massiven militärischen Intervention konnte er beendet werden. Und insofern war damals, auch mit dem Partner Milosevic, der mit am Tisch saß, das Entscheidende, ob man überhaupt einen Frieden gewinnen (kann). Dayton hat den Krieg beendet, hat aber eine ganz komplizierte Konstruktion auf die Schiene gebracht. Und wir haben nun acht Jahre Erfahrung mit Ups and Downs in dieser Entwicklung, mit Zeiten, wo wir Partner hatten, die sehr intensiv versucht haben, die Gedanken von Dayton umzusetzen und natürlich auch immer wieder mit Partnern vor Ort in den verschiedenen Entitäten von Bosnien-Herzegowina, wo wir diese gleiche Bereitschaft nicht finden konnten. Und wir sind heute eben an einem Punkt, wo diskutiert werden muss, ob eigentlich die verfassungsmäßigen Grundlagen des Dayton-Prozesses verändert, angepasst werden müssen. Wann das geschehen soll, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Aber es ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass ab und zu – das kann nur eine Arbeit sein von offizieller Politik, von NGOs, von Spezialisten - wir unsere Strategien in dieser Region überprüfen müssen, gerade auch in Bosnien-Herzegowina.

Frage:

Herr Erler, wie geht es weiter mit der Politikberatung der SOG bezüglich Südosteuropas?

Antwort

: Ich habe den Eindruck, dass die deutsche Politik, dass das Auswärtige Amt, das Gefühl hat, dass diese Arbeit, die wir hier versuchen, sehr viele Detailerkenntnisse bringt und auch mobilisiert, wie man sie anders auf dem offiziellen Wege, sage ich mal, auf diplomatischen Wegen nicht mobilisieren kann, deswegen werden wir jetzt speziell, was Südosteuropa angeht, in einer Richtung vor allen Dingen versuchen, künftige Schwerpunkte aufzubauen. Ich habe am Ende der Konferenz erwähnt, dass wir jetzt das Phänomen der Ungleichzeitigkeit haben. Wir werden auch in Südosteuropa jetzt Länder haben, die sind schon mit einer Erfahrung innerhalb der EU ausgestattet. Wir werden welche haben, die werden ganz neu in die EU eintreten und werden eben gerade auf dem westlichen Balkan fünf Länder haben, die sich in auf einer längeren Reise befinden, die aber im Grunde genommen auch eine klare Perspektive für die europäische Integration haben. Und nahe liegt ja, dass man einen Austausch von Erfahrungen, einen Austausch von Strategien hier versucht, um das Leben für diejenigen, die noch den längsten Weg haben, zu erleichtern. Man muss ja nicht jede Erfahrung in jedem Land wieder neu machen. Das ist die große Chance des Erweiterungsprozesses und da sind wir als Gesellschaft in Form von Politikberatung eigentlich gefordert, solche Austauschprozesse zu organisieren. (Interview: Adelheid Feilcke-Tiemann) (MK)